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„Das gesamte Haus ist in Aufruhr“

István Simon in »Manon«, 2015 (Foto: Ian Whalen)

Nach dem Bericht von »Musik in Dresden« war der Fall auf der Jahrespressekonferenz der Sächsischen Staatsoper Dresden bereits kurz zur Sprache gekommen. Bei einer öffentlichen Gerichtsverhandlung vor dem Arbeitsgericht Dresden wurden heute auch die Namen aller Prozessbeteiligten genannt. Der Erste Ballettmeister des Semperoper Balletts wird von dem Ersten Solisten István Simon der sexuellen Belästigung bezichtigt. Nachdem Simon sich letztes Jahr intern an Ballettchef Aaron S. Watkin gewandt und um Unterstützung gebeten hatte, gab es mehrere Versuche der Einigung. Die Oper jedoch entschied, an dem beschuldigten Ballettmeister vorerst festzuhalten und Simon selbst vorläufig von den Proben zu suspendieren. Gegen diese Suspendierung hat Simon nun geklagt – und verloren. Dem Vorschlag der Klägerseite, er wolle für die verbleibende Zeit der Saison nicht mehr mit dem besagten Ballettmeister, sondern mit einem der drei anderen am Haus angestellten Ballettmeister oder gern auch Watkin selbst (der zuweilen auch die Aufgaben eines Ballettmeisters übernimmt) arbeiten, wollten die Vertreter der Oper nicht nachkommen – wohl fürchtet man einen Präzedenzfall. Intern scheint die Linie des Freistaates festgelegt, wie Simons Anwalt Hendrik Hagen während des Prozesses darlegte: so habe er telefonisch das Angebot erhalten, seinen Mandanten finanziell abzufinden mit der Bemerkung „Dieser Tänzer wird niemals mehr an unserem Haus tanzen“. Laut Semperoper-Webseite ist Simon diese Saison noch für zwei Vorstellungen als Solist eingeteilt; vor Gericht hieß es heute, zumindest in dieser Saison seien weitere Auftritte absolut ausgeschlossen.

Der Ballettmeister hatte hausintern eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass Simons Vorwürfe haltlos seien. Das hat am Arbeitsgericht heute wohl gereicht, um eine Beschwerde des Tänzers gegen seine eigene Suspendierung zurückzuweisen. „Das gesamte Haus ist wegen des Falles in Aufruhr“ – soviel ließ sich der Anwalt des Freistaats während des Prozesses entlocken. Eine grundsätzliche Bereitschaft zur Lösung des Problems ist dagegen nicht zu erkennen. Missbrauch beim Ballett? „It’s not a bug, it’s a feature“, sagte István Simon nach dem Prozess. Seine persönliche Karriere ist durch die gerichtlichen Auseinandersetzungen – soweit erkannte das auch das Gericht – natürlich akut gefährdet; es drohen nun mehrere Jahre an gerichtlichen Auseinandersetzungen durch mehrere Instanzen (Bühnenschiedsgericht, Oberbühnenschiedsgericht, Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht). Danach wäre seine Karriere als Tänzer – Simon ist 30 Jahre alt – höchstwahrscheinlich beendet.

Es ist bedrückend, dass die Semperoper es nicht geschafft hat, hier mit mehr Sensibilität zu reagieren. So wäre es ja offenbar dringend notwendig, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie am Haus angestellte Künstler auf mutmaßliche sexuelle Belästigung und sexuellen Missbrauch hinweisen können, ohne ihre weitere Karriere zu gefährden. Das Haus hätte dafür Lösungen schaffen und Präventionsmaßnahmen entwickeln können, die deutschland-, ja europaweit exemplarisch sein könnten. Stattdessen mauerten die Anwälte und versuchten während der zweistündigen Verhandlung alles, um die Glaubwürdigkeit des Klägers in Zweifel zu ziehen.

Eine ausführliche Berichterstattung von Boris Gruhl demnächst auf »Musik in Dresden«.

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