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Gruppenbild mit Tschick

Der Roman »Tschick« von Wolfgang Herrndorf erschien 2010, wurde zum Bestseller in über 25 Ländern, 2013 zum meistgelesenen Buch in Deutschland, inzwischen bundesweit verbindliche Schullektüre. Die Theaterfassung von Robert Koall wurde 2011 in Dresden uraufgeführt und wurde ein Dauerbrenner im Kleinen Haus in der grandiosen Inszenierung von Jan Gehler. Inzwischen ist die Dresdner Bühnenfassung mit über 2000 Aufführungen eines der meistgespielten Stücke in Deutschland.

Foto: Matthias Rietschel

Es gibt eine Verfilmung von von Fatih Akin, 2016, und im Jahr darauf, als Auftragsarbeit des Theaters Hagen, kam die Oper von Ludger Vollmer heraus. Jetzt feierte »Tschick« als Road Opera eine stürmisch bejubelte Premiere an den Landesbühnen Sachsen im Theater in Radebeul. Am Pult der Elblandphilharmonie Hans-Peter Preu, Inszenierung, Ausstattung und Licht Sebastian Ritschel, seit Beginn dieser Spielzeit Operndirektor an den Landesbühnen. Ein großes Ensemble mit Gästen in den Hauptpartien, der verstärkte Chor der Landesbühnen und Mitglieder des Jugendchores des Gymnasiums Coswig. Großes Aufgebot für diese Oper um die beiden 14jährigen Außenseiter, Maik und Tschick. In den Sommerferien nach der achten Klasse, auf ihrer Reise im geklauten Lada, Richtung Süden, in die „Walachei“ unterwegs, treffen sie die Aussteigerin Isa, sie kommen weder im Süden, noch in der Walachei an, aber sich selbst sind die sie wesentlich näher gekommen, und das wird ihr Leben prägen, wie es bei Wolfgang Herrndorf heißt: „Traum ohne Grenzen, unsere Reise: Das ist der Traum von der Freiheit, Was für ein Traum!“

Es ist zwar gut und im Nachhinein empfehlenswert, den Roman zu kennen oder das Stück gesehen zu haben, aber unbedingt nötig ist das nicht, um die Opernfassung mit dem Libretto von Tina Hartmann zu verstehen. Musik wäre schon ein tolles Medium, wenn es darum geht, die Fantasien dieser Reise der jungen Leute zu sich selbst lebendig werden zu lassen, der Realität eine ganz andere Ebene zu geben. Fantasien, Erlebnisse, vor allem die vielen kurzen Begegnungen mit den ganz unterschiedlichen Menschen auf dieser Reise und natürlich diese wunderbaren, nachdenklichen Momente, böten ganz sicher auch Möglichkeiten für eine spezielle Interpretation mit den Mitteln des Musiktheaters. Es geht um das Erwachen der Sexualität: Tschick ist schwul, Maik interessiert sich für Mädchen. Dennoch kann diese Freundschaft bestehen in gegenseitiger achtungsvoller Zuneigung, was in der Welt der Erwachsenen, etwa bei Maiks gut gestellten Eltern in der Wohlstandsfalle oder in den verworrenen Verhältnissen des Russlanddeutschen Tschick, der zudem noch mit seinem Außenseitertum, „der Iwan“, ein jüdischer Zigeuner, wie er sich bezeichnet, zurecht kommen muss, längst verloren gegangen ist. Also, keine Angst vor Oper! Sicher nicht zuletzt wegen der jungen Leute auf der Bühne, den Mitgliedern des Jugendchores vom Gymnasium Coswig, waren viele junge Leute im Premierenpublikum. Sie waren am Ende begeistert und jubelten ihren Helden zu.

Zudem verwendet der Komponist ja auch schon mal gediegene, rockige Sounds. Es gibt gemäßigte Beats und auch ein bisschen freundlichen Hip-Hop, mitunter lässt das Musical grüßen, aber eben nur mitunter, meistens ins große Oper angesagt. Ludger Vollmer findet allerdings besonders für die sensiblen Momente zarte Melodik, die von großer Zuneigung zu den jungen Leuten getragen ist, grell wird es auch, überspitzt und schon mal richtig krachig, Blech und Schlagwerk, wenn ihnen diese Typen in den kurzen Szenen begegnen. Friedemann und seine Großfamilie, wo für jeden Platz ist am Tisch, der alte Kämpfer, der kommunistisch im beinahe faschistischen Duktus argumentiert und für den die Russen die ärgsten Feinde sind. Es gibt wandernde Rentner im Stillstand am Stock, noch immer auf dem Weg in ihren Süden, in Szenen für den Chor, der auch immer wieder kommentierende Funktionen übernimmt, leider mitunter schwer verständlich. Am Ende aber drängt sich doch doch die Frage auf, ob die „große Oper“, zu der Ludger Vollmers Musik immer wieder auch ganz schön lautstark aufläuft, wirklich das angemessene Genre ist für ein solches Stück. Da könnten die Meinungen auseinander gehen über diese Road Opera. Weniger darüber, wie Sebastian Ritschel deren Handlung in 29 knappen Szenen inszeniert, ausgestattet und ins Licht gesetzt hat.

Der Bühnenraum ist ein dunkler, mit Graffitis besprühter Tunnel. An der hinteren Wand der Bühne sieht man so ein historisches Theaterportal. Wenn sich hier der Vorhang hebt erscheinen eben jene skurrilen, schon mal ganz schön schrägen Gestalten aber auch jene Isa, die Aussteigerin auf der Müllkippe. Und in dem Tunnel geht es für die beiden 14jährigen Ausreißer im Kreis herum. Sie werden dabei immer wieder von einer sie schützenden aber auch bedrohlich wirkenden Lichtinstallation umgeben, die sie umkreist und diesem Tunnel zusätzlich optische Tiefe verleiht. Der geklaute Lada ist so ein Rummelplatzauto, wie man es vom Autoscooter kennt. Sebastian Ritschel macht ja kein realistisches Musiktheater, er inszeniert Traumtheater aus Angst und Glück, aus Aufbruch und Verzweiflung. Den jungen Helden begegnet er mit großer Empathie – das überträgt sich auf die Menschen im Theater. Die anderen Typen können schon schon mal wie grelle Klischees wirken, das kann komisch werden, opernhaft übertrieben. Chorszenen sind choreografisch inszeniert; immer ganz gut in der Oper.

Das Schlussbild fasst zusammen, was diese Inszenierung mit einem großartigen Ensemble in allen Rollen, den Chören, dem munter aufspielenden Orchester unter Hans-Peter Preu ausmacht. Für alle, denen dieser Tschick begegnet ist, ob sie ihn mögen oder nicht, hat sich etwas verändert. Und das wird am Ende festgehalten. Es gibt einen typischen Schnappschuss, den man immer wieder gerne aus der Erinnerungskiste holt: Gruppenbild mit Tschick.

Für die Opernpartien der Vierzehnjährigen haben die Landesbühnen Gäste engagiert. Gute Wahl. Volltreffer, der Bassist Michael Zehe in der Titelpartie, der Bariton Johannes Leuschner als Maik und die Sopranistin Kirsten Labonte als Isa. Gemeinsam mit dem großen Ensemble der Radebeuler Sängerinnen und Sänger (stellvertretend seien Stephanie Krone und Hagen Erkrath als Eltern von Maik, in schriller Überspitzung Iris Stefanie Maier als Friedmann mit Max- oder Moritzallüren, tragikomisch, aber nicht ungefährlich Peter Koppelmann als Kommunistenkämpfer genannt), dem verstärkten Chor und den jungen Sängerinnen und Sängern vom Gymnasium aus Coswig und dem Orchester unter der engagierten Leitung von Hans-Peter Preu, gelingt es mit dieser Inszenierung erneut, einen besonderen Akzent im Dresdner Spektrum der Musiktheaterszene zu setzen.

Michael Zehe und Johannes Leuschner, spielbegabt, gesanglich bestens, klangschön und sensibel, kommen zum Glück gar nicht auf die Idee, so zu tun, als wären sie vierzehnjährige Jungs. Weil sie daher so authentisch sind, kommen sie dem, was diese beiden Jungs ausmacht, umso näher. Sie verhalten sich dazu, sie nehmen uns mit auf ihre Reise zu diesen Menschen, sie kommen sich sehr nahe und somit uns auch. Da erlebt man schon glückliche Momente im Theater. Dass es darüber nachzudenken gilt, versteht sich. Nachdenken sollte man allerdings auch darüber, ob es wirklich dienlich ist, die Gesangsstimmen zu verstärken. Die Individualität wird doch empfindlich verfremdet. Mag sein, dass die Komposition das so vorsieht, aber gegen den mitunter ganz schön moralisierend hoch erhobenen Zeigefinger im Text der Oper (im Gegensatz zur literarischen Vorlage!) kann sich die Regie ja auch weitestgehend behaupten.

Schöne Perspektive: am 30. Mai gastieren die Landesbühnen mit der Oper »Tschick« im Kleinen Haus des Staatschauspiels, also am Ort des Ursprungs für den Theatererfolg.

Nächste Radebeuler Vorstellungen: 25., 30.1., 2.2.