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Mit Weinberg im Gebirge

Eine „makellose Kraft“ attestiert der Geiger Linus Roth in einem Interview der Musik Mieczysław Weinbergs, „auf der anderen Seite gibt es diese Transparenz und Schönheit in seinen Melodien“. Und er fährt fort: „Ich glaube, das ist erstklassige Musik.“ Man mag ihm sofort rechtgeben, hört man sich zum Beispiel in das Universum der vier Sonaten für Violoncello solo ein. Lyrische Gesänge, die den Hörer in ihrer Einfachheit und Direktheit sofort ergreifen, ohne dass sie banal oder flach wirken. Ja, man hört eigentlich ständig Querverweise auf das Paralleluniversum DSCH, in den ungewöhnlichen harmonischen Fortschreitungen und Entwicklungen, in den drei- oder mehrfachen Tonwiederholungen, in den unrunden, scheinbar unbeholfen stolpernden Tänzchen, die einen zum Kichern bringen und eine Straßenecke später wieder ernst werden lassen, weil man plötzlich merkt, dass bei Weinberg nichts einfach nur zum Lachen ist. Verzweifelte, bittere (Wut?-)Ausbrüche, introvertierte, ängstlich bangende Stellen und, ja, endlos fließende, atmende, klagende Melodien:

Die kompositorische Nähe zu Schostakowitsch, die Weinberg selber anerkannte und keinesfalls als problematisch ansah, sie ist einerseits unser Verständnisanker, sie bietet den naheliegendsten Zugang zu diesen Werken. An ihm kann sich Weinberg orientieren, messen, an den verehrten Freund und Lehrer im spirituellen Sinn kann er sich halten, von ihm kann er sich stückweise auch emanzipieren. So sind Weinbergs Werke eben auch (und für manche vor allem) ein Weg, einen weiteren Zugang zu diesem vieldimensionalen, rätselhaften, sich oft genug widersprüchlich verhaltenden Komponisten Dmitri Schostakowitsch zu finden.

Andererseits aber ist diese kompositorische Nähe ein Fluch für das Gesamtwerk Mieczysław Weinbergs, für seine Einordnung und Bewertung in unserem künstlerischen Erfahrungsraum. Wenn wir Schostakowitschs Floskeln, Themen, seinen Duktus allzu deutlich durchhören, finden wir am Ende kaum noch Eigenes in dieser Musik – und sind doch natürlich auch immer erleichtert, wenn wir Weinberg hören und Korrespondenzen, Auslegungen und Anklänge finden an den großen, den übermächtigen Kollegen. Manchmal aber irritiert diese Nähe einfach zu sehr. Nehmen wir etwa das Präludium Nr. 21 aus den »24 Präludien für Violoncello solo«:

Was soll uns diese Studie, an dieser Stelle? Sie lässt uns nicht zuletzt raten, wie viele musikalische Anspielungen in Weinbergs Musik vielleicht von uns gar nicht mehr dechiffrierbar sind, weil sie sich auf heute unbekanntere Komponisten-Kollegen beziehen. Auf Rodion Schtschedrin beispielsweise, dessen Musik heute zumindest im Westen nicht annähernd die Aufmerksamkeit erfährt, die sie verdient hätte, obwohl sie etwa Weinbergs Welt in ihrer Rätselhaftigkeit und Verlorenheit, aber auch in ihrer radikalen Gestaltungskraft und ihrem Mut, sich in neue musikalische Welten vorzutasten, mindestens (!) ebenbürtig ist. Dieses »Basso Ostinato« aus dem Jahr 1961 zum Beispiel, das Schtschedrin hier spielt, und in dem er seinerseits auf die Lyrik von Andrej Wosnessenski Bezug nimmt. Eine strenge Studie ist es, die sich in jazzige, synkopische Elemente reinkniet, manchmal hört man morse-code-artige, ungleichmäßig hämmernde Staccatofolgen, die die Moderne, den Fortschritt beschwören. Gewidmet ist das Stück seinem Lehrer Jakow Wladimirowitsch Flier (1912-1977).

Es drängt sich der Eindruck auf, dass wir Heutigen von dem endlos sich verzweigenden und wieder ineinanderfließenden Musikstrom, der sich aus den felsigen Höhen von Skrjabins mystischem Akkord aus in die Ebenen des 20. Jahrhunderts ergießt, eigentlich fast nichts mehr kennen, das seitwärts des breiten Hauptstroms fließt. Unbedingt müssten wir hier weiter forschen, alte Schleichwege in Ufernähe freilegen und werden noch auf so manche Überraschung stoßen. Es gilt dabei aber auch realistisch zu sein: genau so wählerisch und kritisch, wie wir mit einigen Werken Schostakowitschs aus verschiedenen Gründen sind, genau so gründlich-kritisch sollten wir etwa auch bei Weinberg sein; ‚erstklassig‘ ist eben doch nicht jedes Werk aus seiner Feder. „Intervalle“ zum Beispiel, der dritte Satz der Sonate Nr. 2 für Violine solo op. 95 aus dem Jahr 1967, der am Wochenende in Gohrisch erklang, wirkt auf mich beim wiederholten Hören jedes Mal störrischer, leerer, verschulter:

Insofern müsste eigentlich jeder Wieder- oder Neuentdeckung, der die verdienten Weinberg-Apologeten Linus Roth, Thomas Sanderling, Gidon Kremer, Elisaveta Blumina, Michail Jurowski oder Irina Schostakowitsch ans Licht verhelfen, in den Konzerten immer auch ein breiteres musikalisches Umfeld mitgegeben werden, das uns hilft, uns zu diesen Werken vorzutasten und sie in ein größeres Bild einzuordnen. Vielleicht ist der große Unterschied zwischen Schostakowitsch und Weinberg die kompositorische Leichtigkeit und stilistische Zuspitzung und Vollendung auf der einen Seite, die Genialität, die sogar in scheinbar banalen Stücken immer durchscheint – und die hörbare, mühevolle Arbeit auf der anderen Seite, das Ringen um die beste kompositorische Lösung, der Kampf, der auch manchmal nicht zu Ende gefochten scheint. Manches an Weinbergs Werken erscheint unfertig, einem Einfall geschuldet, dann nicht weiterverfolgt. Aufgegeben.

Großartig, wie das Aufschließen der Weinberg-Welt trotz der kurzfristigen Absage José Gallardos (die uns leider einen ‚Schtschedrin‘ kostete) bei den diesjährigen Schostakowitsch Tagen wieder gelang! Weinberg und Schostakowitsch, Weinberg und Prokofjew nebeneinander zu hören, weckt die Neugier auf das, was da an Uraufführungen noch kommen mag. Das neuentdeckte »Largo« für Violine und Klavier hätten wir schlicht und einfach gern noch mal gehört; und das fantastische »Trio für Violine, Violoncello und Klavier« sollten wir noch viel öfter hören, um ihm vielleicht noch besser näher kommen zu können! Nicht zuletzt ist es Weinbergs berückende Oper »Die Passagierin«, mit der wir uns eindringlicher beschäftigen sollten. In Dresden wäre dazu momentan Gelegenheit.