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Szenische Musik ohne Szene

Foto: M.M.

Das letzte Konzert, bevor die Philharmonie in den neuen Saal des Kulturpalastes übersiedelt, fand im Schauspielhaus statt. Werke nach Shakespeareschen Dramen wurden vorgestellt: Prokofjews Ballettmusik nach »Romeo und Julia« und Aribert Reimanns nach »König Lear«. Dirigentin war Simone Young, die sich bis 2015 als Generalmusikdirektorin in Hamburg einen Namen gemacht hat. Mit einem Riesenorchester – der Platz auf der Bühne reichte kaum aus – gestaltete sie einen eigenen Querschnitt durch die Ballettmusik Prokofjews. Gleichsam in vier Sätzen stellte sie Szenen vor, die für bestimmte Ereignisse innerhalb der Geschichte stehen. Am Anfang ist das die festliche Musik des Balls, auf dem sich das legendäre Paar erstmals begegnet. Es folgt die berühmte Balkonszene. Nach dem markant aufschreienden Befehl des Herzogs von Verona, Streit zu vermeiden, kommt es dennoch auf den Straßen (folkloristische Tanzsätze kennzeichnen das) zu Duellen, zum Kampf der verfeindeten Familien mit tödlichem Ausgang. In einem schlagkräftig skandierten Trauermarsch wird der Opfer gedacht. Und in einem 4. Satz wird nach nochmaligem Gebot des Herzogs Julia zu Grabe getragen.

Die Dirigentin gestaltete mit Intensität die tragischen Geschehnisse und mit Klangfreude die Tänze, die von den Musikern voll ausgespielt wurden, die Vielzahl der instrumentalen Möglichkeiten nutzend. Ein größerer Saal hätte hier dem Klang gutgetan! Man konnte der Shakespeareschen Geschichte in allgemeinen Zügen leicht folgen. Spezielle Details waren hier ja weniger angesprochen. Ganz anders in Reimanns »Lear«. Der Komponist hat den Königstitel weggelassen, da es in dem Werk vor allem um das Ende eines vereinsamten Mannes geht, um den von den Seinen verlassenen Lear, der sein Los beklagt und verzweifelt zusammenbricht. Verdi hatte sein ganzes Leben lang danach gesucht, einen Zugang zu finden. Nach »Otello« wäre das vorstellbar gewesen. Reimann ging kompromisslos an die Arbeit. Dietrich Fischer-Dieskau, für den die Titelrolle gedacht war, hat an der Entstehung großen Anteil. Aus der Oper hat der Komponist den Prolog und drei Monologe, die wesentlichen Szenen des alten Mannes herausgelöst. Mit dem ausdrucksstark und sprachintensiv gestaltenden dänischen Bariton Bo Skovhus stellte Simone Young und das Orchester der Philharmonie die klanggewaltigen, zuweilen aber auch in zarten Tönen gehaltenen kontemplativen Klangflächen vor, die den Gedanken des alten Lear auf faszinierende Weise nachgehen. Es war erstaunlich, wie der Komponist die Geräuschflächen szenisch einordnete und in welchem Variationsreichtum Klangkombinationen der Instrumente möglich waren und eine tief erschütternde Wirkung erreichen können. Ein von den Klanggewalten gepacktes Publikum spendete langanhaltenden, begeisterten Beifall. Diese Aufführung war ein Ereignis besonderer Art; ein unvergessliches, bevor nun kommenden Freitag ein neues Kapitel der Orchestergeschichte aufgeschlagen wird.