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Diese Frau macht Musik.

Es ist ein besonderes Glück, dass man als Musikautor nicht nur im täglichen Leben ständig von Musik und Konzerten umgeben ist. Ab und zu gelingt es auch, dass man Künstler über Jahre begleiten kann, nicht im wörtlichen Sinne, aber doch mittels musikalischer Wiederbegegnungen, die sich mal zufällig ergeben, dann aber auch irgendwann geplant sind, weil man die Gelegenheiten unbedingt wahrnehmen will.

Lise de la Salle--Photo: Marco Borggreve
Lise de la Salle–Photo: Marco Borggreve

In Fall des hier schreibenden Autors beschränken sich diese Gelegenheiten in zumeist auf den Dresdner Horizont, daher kann man erneut von Glück sprechen, dass die französische Pianistin Lise de la Salle über gute Kontakte zu den beiden hiesigen Orchestern und zu Musikfestspielintendant Jan Vogler immer wieder den Weg nach Dresden findet.  Bereits 2005 weckte eine CD mein erstes Interesse an ihrem Spiel – Bach und Liszt, in den Werken klug gekoppelt und mit Hingabe interpretiert. Das Besondere: Lise de la Salle war damals erst 16 Jahre alt, und wie ich später herausfand, war dies schon ihre zweite CD – mühelos hatte sie zwei Jahre zuvor bereits ein Ravel/Rachmaninov als Debut eingespielt. Die aus Cherbourg stammende Französin, die mit nun Jahren ihr erstes Konzert gab, hatte zu diesem Zeitpunkt auch schon ihr Studium abgeschlossen.

Die Begegnungen mit Lise de la Salle setzten sich fort – mit Fabio Luisi spielte sie in Dresden in einer hochromantischen Art Chopins 2. Klavierkonzert  ein, 2010 gastierte sie erstmals beim Moritzburg Festival und begeisterte im Schumann-Klavierquintett, 2011 (Ravel-Konzert) und 2013 (Mozart KV 488) konzertierte sie mit der Dresdner Philharmonie. 2012, 2014 und 2015 weilte sie erneut beim Moritzburg Festival und entdeckte ihre große Liebe zur Kammermusik, was sich in bemerkenswerten Interpretationen etwa des Tschaikowsky-Trios, Beethovens „Geister-Trio“ oder des Klavierquintetts von Dmitri Schostakowitsch äußerte. „Nebenbei“ war sie sich nicht zu schade, im Solo-Porträt Brahms‘ Händelvariationen zu spielen oder im Eröffnungskonzert ein Beethoven-Konzert beizusteuern. Die Vielfalt dieser Pianistin kennt kaum eine Grenze, und keineswegs spürt man bei ihr eine Maßlosigkeit – eher sind ihre Auftritte von Ernsthaftigkeit und spannungsreicher Konzentration bestimmt. Und beinhalten die eine oder andere Überraschung – wie man in einer Radio-Übertragung aus Turin mit Rachmaninovs 1. Klavierkonzert verfolgen konnte, als de la Salle einem spürbar trägen RAI-Orchester die Sporen gab. Mit Fabio Luisi und der Philharmonia Zürich hat sie als Artist in Residence alle vier Rachmaninow-Konzerte 2015 eingespielt.

Ihr Recital bei den Dresdner Musikfestspielen – von de la Salle nahezu im Durchflug zwischen Kopenhagen und Seattle gemeistert – fand im Weingut Schloss Wackerbarth statt. Lise de la Salle kombinierte Beethoven mit Schumann und schonte sich in diesem Konzert nicht – mit der letzten Klaviersonate Op. 111 von Beethoven und der C-Dur-Fantasie von Schumann standen große und großartige Stücke auf dem Programm. Und es war endlich einmal eine Gelegenheit, die Pianistin nach vielen Orchesterkonzerten und Kammermusik pur zu erleben. Bereits in den ersten Takten der Klaviersonate C-Dur Op. 2/3 von Ludwig van Beethoven fiel innerlich das dicke deutsche Joachim Kaiser-Beethovenbuch zu Boden, in welchem alle pianistischen Größen des 20. Jahrhunderts in der causa Beethoven auseinandergenommen werden. Dabei machte Lise de la Salle überhaupt nichts falsch, aber in ihrer spielerischen Attitüde, die diesen frühen Beethoven eben gleichzeitig bei Haydn und mit dem Vorausblick auf die Romantik verortet, gelingt ihr eine einzigartige Deutung, die kaum angreifbar scheint, da ihr luftiger und dennoch von höchster Perfektion durchdrungenes Spiel in jeder Note vom Anspruch spricht, den sie an sich selbst stellt. Nichts ist da „dahergesagt“, und wenn sie doch einmal in den Ecksätzen loslegt, als gäbe es kein Morgen mehr, so mag man ihr ein Übergehen der ach so wichtigen Noten des hehren Komponisten unterstellen – sie aber stellt, fast ein wenig über sich selbst staunend, mit Bescheidenheit ihre erstaunlichen virtuosen Fähigkeiten unter Beweis und man freut sich an der Freude.

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Blue Sky über Schloss Wackerbarth nach Opus 111.

Was in dieser Sonate noch entzückend klar in der Aussage ist (um die kompositorischen Kanten auch dieser Sonate weiß Lise de la Salle, und so bleibt auch keine harmonische Bodenschwelle unbemerkt), weitet sich in der Sonate Nr. 32 zum philosophischen Kosmos aus. Lise de la Salle läßt sich ein auf den inneren Diskurs mit dem späten Beethoven, trotzig gesteht sie dem 1. Satz nur zu Beginn Dämonisches zu und nimmt den Teufel später an die Leine . Ganz anders der 2. Satz: sofort wird man an das Musikfestspielmotto „Zeit“ erinnert. Was macht Beethoven da? Was de la Salle? Wo befinden wir uns eigentlich und warum? Während Komponist und Interpretin einen unsichtbaren Gral umkreisen, tauchen im Innern Fragen auf, die Grenzen von Musik, möglicherweise auch Grenzen des Denkens überschreiten. Vorne auf der Bühne nähert sich Lise de la Salle, die nun vollkommen eingesogen ist in der Partitur, auch Grenzen, lotet immer wieder das eigene Spiel aus innerhalb der Fragestellung, wie man denn dieser Sonate überhaupt „vernünftig“ begegnen kann. Beim Zuhören merkt man, wie sie mit der Contenance ringt und letztlich doch die Kontrolle behält über dieses Wildtier Beethoven, das sich dann in perlendem Trillerspiel in irgendeine Sphäre „oben“ verabschiedet – mag man Beethoven glauben, dass er bloß keine Zeit für einen dritten und vierten Satz hatte…?

Nach der Pause – Schumann. Während im auf dem Boden im doppelten Sinne aufgeschlagenen Joachim-Kaiser-Buch verwirrte Stimmen zwischen den Blättern tönen „nach Opus 111 kann NICHTS mehr kommen!“, beginnt Lise de la Salle den zweiten Konzertteil mit den Kinderszenen und bringt die Stimmen schnell zum Verstummen. Wo Schumann und Beethoven sich nahe sind, ist der Tummelplatz der Phantasie, wenn auch die beiden Komponisten in ihrer jeweiligen Ecke des Spielplatzes zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Bei Lise erhält die „Träumerei“ einen besseren Schlaf, weil sie langsam wiegend durchpulst ist, und die schnellen Stücke des Zyklus erhalten bei aller Kettenkarrussell-Geschwindigkeit trotzdem einen ernsthaften Zug – die Kunstfertigkeit der Komposition tritt plötzlich in viel größeren Bögen zutage.

Bei der C-Dur-Fantasie kennt dann auch das Publikum kein Halten mehr, es ist eines der wenigen Male, wo spürbar der an falscher Stelle (nach dem 2. Satz) platzierte Beifall aus ehrlicher Bestätigung des Gehörten erwächst. Lise de la Salle nickt kurz, sie bleibt in der Konzentration. Dabei hätte sich Geduld für das Publikum gelohnt: in den ersten beiden Sätzen zeigte Lise de la Salle eine knackige Charakterisierung der Motive und Formen und setzte im zweiten Satz mit auch grenzwertigem Tempo alles auf eine Karte. Schumann nickte zustimmend – und Lise gewann. Und ergänzte dann ein so empfindsames Finale, dass selbst der hartgesottenste Schumann-Kostverächter zum Genuss gezwungen wurde.

Ein Etude-Tableaux von Sergej Rachmaninow als Zugabe setzte das energisch-kantige Temperament der Schumann-Fantasie in anderer Klangwelt fort, der warm-differenzierte Rachmaninow-Klang entströmt dem Steinway sofort. „Guten Abend“ und „Dankeschön“ sind die einzigen Worte, die Lise de la Salle bei diesem Recital spricht. Keine Show, kein Gehampel, keine Pamphlete, verfrühte Autobiografien oder Parfumveröffentlichungen. Diese Frau macht Musik.

Fotos: Marco Borggreve, Lynn Goldsmith, Alexander Keuk

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