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„Die heutigen Kruzianer singen zu brav“

Peter Schreier, eine legendäre Einspielung des „Weihnachtsoratoriums“ mit dem Kreuzchor und der Dresdner Philharmonie unter Martin Flämig wird dieses Jahr vierzig. Ist es nicht spannend zu hören, wie sehr sich die Interpretationsweise der Kantaten in den letzten Jahrzehnten geändert hat? Lassen Sie uns doch einmal in Erinnerungen schwelgen…

Gern! Wenn wir da zuerst ganz weit zurückschauen, müsste man sicherlich sagen, die für mich prägenden Aufnahmen waren die mit dem Kreuzkantor Rudolf Mauersberger. Die Kinder- und Jugendzeit ist doch die, die man am nachhaltigsten aufnimmt. Mir geht es auch heut noch so: die Kreuzchorzeit ist für mich, als ob sie erst gestern gewesen wäre. Ich lebe noch gedanklich in dieser Zeit. Die Art und Weise des gemeinsamen Musizierens, die Disziplin, das Hören auf die Nebenstimmen, auf seine Mitsänger. All das sind Dinge, die ich im Kreuzchor kennengelernt habe, sozusagen mit der Muttermilch eingesogen habe. Mauersberger hat die Entwicklung des Kreuzchors ungeheuer geprägt. Der Kreuzchor war ja sehr groß, trotzdem hat er für die Aufführungen des Weihnachtsoratoriums noch den gemischten Bachchor dazugenommen. Die Bestrebungen, die Chorbesetzung auf ein bei Bach übliches Maß zurückzuführen, gab es damals noch nicht. Der typische Knabenchorklang, dieses Metallische, stand für ihn im Vordergrund. Mauersberger war eben – wie Karl Straube – musikalisch von seiner Zeit beeinflusst. Manche seiner Aufnahmen klingen heute wie aus einer anderen Welt.

Zehn Jahre älter als Sie und ebenfalls Kruzianer: das war Karl Richter. Nach dem Krieg studierte er in Leipzig, wurde Thomasorganist und ging dann 1951 nach München. Seine Bach-Einspielungen sind legendär, aber mit heutigen Ohren hören sie sich überaus gesetzt, vordergründig gravitätisch an.

Richter, ein Schüler Karl Straubes, hatte seinen ganz eigenen Stil. Beeindruckend war an ihm in erster Linie die Persönlichkeit; er war eine Ausnahmeerscheinung. Kennengelernt habe ich ihn kurz nach dem Krieg, als er Mauersberger assistierte. Wir hatten einen riesigen Respekt vor ihm. Als er später die Matthäus-Passion im Deutschen Museum in München aufführte: das war geradezu ein Ritual. Seine Bach-Auffassung war sehr eigen, und er ist nie davon abgegangen. Wenn er noch länger gelebt hätte – er starb ja mit Mitte fünfzig an Herzversagen –, hätte er wohl gar keine Chance mehr gehabt, sein Bachbild weiterzutragen. Aber er war eine Ikone, und er hatte eine Spannung in seinen Interpretationen, die ich später nie wieder erlebt habe. Dass er als Dirigent seinen Stil so konsequent verfolgt hat, hat mich beeindruckt.

Karl Richter war Pfarrerssohn; man gewinnt beim Hören manchmal den Eindruck, die christliche Botschaft durch Musik vermittelt zu bekommen. Sind Ihnen solche Aspekte wichtig?

Ich komme ja aus einem Kantorenhaus; wenn man in diesem Umfeld großgeworden ist, sieht man Bach natürlich auch von der Glaubensseite. Ich meine, ich wurde nicht gefragt, ob ich an Gott glaube, ich hatte einfach daran zu glauben! Diese unterschwellige Erziehung hat natürlich jeden geprägt. Bach selbst hat mit diesem christlichen Glauben, der in ihm so verwurzelt war, diese Musik schreiben können. Und wenn man mich fragt, ob ich an Gott glaube, sag ich ja. Bach ist mein Gott.

Da wäre nun Günter Jena unbedingt zu nennen, etwa so alt wie Sie, aber Thomaner und in München später Assistent von Karl Richter. Über das Weihnachtsoratorium hat er vor einigen Jahren seine gesammelten „Erfahrungen und Gedanken“ niedergeschrieben…

Günter Jena war ein absoluter Epigone von Karl Richter; seine Tempi hat er genau nachempfunden.

Unter Jena haben Sie vor zwanzig Jahren noch einmal den Evangelisten gesungen – einen berührenden Mitschnitt gibt es davon auf CD… Aber lassen Sie uns noch einmal weiter zurückgehen zu einer Aufnahme, die auch so ein Meilenstein ist wie die mit Flämig: die mit der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart unter Helmuth Rilling.

Ach, an die erinnere ich mich gar nicht so genau. Sie ist damals ziemlich zerstückelt zustande gekommen; wir haben sie in Etappen aufgenommen. Für mich war vor allem die Begegnung mit Rilling interessant, weil er auf der einen Seite Traditionalist war, auf der anderen Seite auch ein Erneuerer. Was mich faszinierte, war sein lebendiges Musizieren, was besonders auf den Chor eine gewaltige Wirkung hatte. Die Sänger haben sich für ihn richtig reingekniet, in einer Weise, wie ich es bis dahin nicht kannte.

Musikalisch beschwingt klingt die Aufnahme, eher zeitlos als traditionell. Dem damaligen Dresdner Bach-Bild scheint sie mir näher zu sein als vieles, was in dieser Zeit in Sachen historische Aufführungspraxis schon im Schwange war…

Ich erinnere mich jedenfalls, dass die Aufnahmen unter dem Aspekt geschahen, dass ich ein „Mann aus dem Osten“ war und ein bisschen das Gefühl hatte, etwas zeigen zu können, was hier in Dresden musikalisch gerade geschieht. Nicht, dass wir die letzten Trottel waren! Wir haben eben nur recht lange in der Tradition gehangen, und das kann auch Schlamperei bedeuten. Ich fand, dass man durch die Begegnung mit anderen Kulturzentren sehr viel am eigenen Musizierstil verbessern konnte. Und, sicher, Rilling war kein Bücherwälzer, kein Mann, der ein „authentisches“ Musizieren unter allen Umständen praktizieren wollte. Unsere Vorstellungen trafen sich eigentlich sehr gut: die Weihnachtsgeschichte wollten wir mit Leidenschaft erzählen. Der Evangelist ist doch jemand, der beteiligt ist, der Partei ergreift! Über dieses Thema habe ich übrigens im Clinch gelegen mit John Eliot Gardiner, der nach einer Matthäus-Passion einmal zu mir sagte, ihm fehle da die Distanz. Ich finde, schon allein durch die Art und Weise, wie Bach die Rezitative geschrieben hat mit diesen unglaublichen Intervallsprüngen (singt vor), das fordert zu einer Deutung doch geradezu heraus! Da kann man nicht sachlich bleiben. Nein, im „Weihnachtsoratorium“ und vor allem in der Matthäus-Passion ist ein Evangelist gefragt, der Stellung nimmt.

Hat man in Westdeutschland denn wahrgenommen, wie Bach in der DDR musiziert wurde? Ich erinnere mich, dass Christian Thielemann vor seiner Interpretation des „Weihnachtsoratoriums“ in der Frauenkirche erzählte, er habe als Kind die Thomaner und den Kreuzchor im Radio gehört, das habe ihn geprägt.

Das kann ich mir gut vorstellen! Thielemann ist doch ständig nach Ost-Berlin herübergekommen, er war in meinen Liederabenden, hat auch meinen „David“ gehört. Ich glaube, er war unheimlich interessiert, was im Osten geschieht, und Berlin war nun mal das musikalische Aushängeschild der Republik. Deswegen bin ich auch von Dresden weggegangen – weil hier einfach nüscht los war!

Amüsanterweise hat Sie Thielemann sozusagen am Pult der Staatskapelle beerbt – denn in den achtziger Jahren dirigierten Sie dort das „Weihnachtsoratorium“ für eine Aufnahme, die in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich ist. Sie ist die einzige, die ich kenne, auf der der Dirigent auch singt…

Das ist, glaube ich, überhaupt einmalig, und übrigens gar nicht so sehr auf meinem Mist gewachsen: Ich sollte das Werk eigentlich nur dirigieren. Bei den Proben meinte die Aufnahmeleitung dann: Herr Schreier, Sie bereiten ja alles vor, indem sie es vorsingen. Wenn ein bestimmtes Tempo für einen großen Turbachor notwendig ist, ziehen Sie das Tempo des Rezitativs an und führen so zu der nötigen Intensität. Wäre es nicht eigentlich gut, Sie würden auch den Evangelisten singen? So ist das zustande gekommen! Dann habe ich das in der ganzen Welt so gemacht: in Australien, in Neuseeland, auch in Amerika. Die Amerikaner hören doch auch mit dem Auge; wenn da ein Evangelist in der Mitte steht und singt, ist das für sie eine neue und interessante Weise zu musizieren. Der Evangelist wird sozusagen zum ‚Spiritus Rector‘.

Ich stelle mir das nur von der Kondition her schwierig vor?

Ach, die Doppelbelastung ist gar nicht so groß. Man denkt die Musik ja gewissermaßen voraus; die Konzentration ist erhöht, und das macht es einem auch leichter, die Tempovorstellungen auf Chor und Orchester zu übertragen. Es war ganz klar: wenn ich als Evangelist ein Tempo vorgegeben habe, hat das Orchester es ganz mühelos aufgenommen.

Dann lassen Sie uns noch auf eine Aufnahme zu sprechen kommen, die vielleicht am weitesten entfernt ist von Ihrem Interpretationsstil, und die trotzdem heute Referenz-Charakter hat: sie ist Anfang der Achtziger in einer glänzend geschmückten österreichischen Stiftskirche entstanden. Wir sehen Chorsänger in gestickten Chorhemden, Evangelist und Dirigent tragen weiße Rollkragenpullover…

Die Harnoncourt-Einspielung! Mein Kreuzchor-Ohr kann sich heut noch nicht damit anfreunden. Es gab Vorgaben, die mich nach wie vor nicht begeistern: die übertriebene Vibratolosigkeit – das klingt für mich schauerlich. Ob das wirklich Bachs Klangideal war? Es ist ja interessant zu hören, wie es vielleicht einmal geklungen haben könnte – aber anfreunden kann ich mich eben damit nicht. Klar, es gibt Stellen im Weihnachtsoratorium, die müssen ohne Vibrato sein, aber als Ausdrucksmittel! Nikolaus Harnoncourt machte eben am Anfang seiner Dirigentenkarriere Dinge, die er später wieder korrigierte. Was mir aber von Anfang an gut gefiel an ihm: er suchte den Bezug zum Wort. Der sprechende Klang: das war etwas, womit ich mich seit dem Beginn meiner Tenorlaufbahn befasse. Aller Gesang ist wortbezogen! Gesangsfetischismus, Klangorgien habe ich immer abgelehnt. Es ist wichtig, dass der Gesang im Geiste der Sprache steht.

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Ein renommierter Dirigentenkollege von Ihnen aus einer späteren Kreuzchorgeneration – Hans-Christoph Rademann – würde da unumwunden zustimmen. Auch er betont die sprachlichen Urgründe der Bachschen Musik. War das ein Kreuzchor-Spezifikum?

Mauersberger konnte da ganz zornig werden, er rief immer „Text, Teeext“! Nur viel herausgekommen ist dabei nicht… Das ist übrigens eine Sache, die im heutigen Kreuzchor aus meiner Sicht stärker berücksichtigt werden müsste. Ich war dieses Jahr in ein paar Vespern und muss sagen: ich verstehe zu wenig. Klanglich sind die Knaben hervorragend, aber der sprachliche Aspekt bleibt ein großes Defizit.

Von Ihnen, Peter Schreier, haben wir Aufnahmen aus sechzig Jahren – eine phänomenal lange Zeit, und vielleicht kein Wunder, dass man Ihnen als Evangelist in Dresden immer noch etwas hinterhertrauert. Gibt es heute interessante junge Solisten, die Sie aufhorchen lassen?

Ehrlich gesagt: zu wenig. Ich habe immer noch das Gefühl, dass die Sänger nur Stimme zeigen wollen. Ich merke aber bei den jungen Leuten, dass sie keinen Mut haben, sich freizumachen und eine eigene sängerische Persönlichkeit zu zeigen. Als wohltuende Ausnahme nenne ich einmal Daniel Behle, der ja unter Thielemann den Evangelisten gab: die „Johannespassion“ mit ihm lag genau auf der Linie, die ich als Sänger auch immer angestrebt habe. Und, klar, es gibt auch ein paar gute Kruzianer, die jetzt nachrücken. Aber alle singen zu brav, gehen zu wenig aus sich heraus!

Foto: privat

Wir haben ja einen Riesengenerationswechsel gehabt in den letzten Jahren, und das ist auch gut so. Wir können nicht stehenbleiben. Aber es wird eben immer von den Persönlichkeiten der Sänger abhängen, wie etwas beim Publikum ankommt. Vom einzelnen Musiker hängt es ab, was er aus der Musik macht. Ob er dahintersteht. Der Sänger darf nicht glauben, er sei ein Produzent. Er ist ein Gestalter! Und er muss das Publikum ansprechen können. Bei der Interpretation spielen auch außermusikalische Seelenzustände mit. Die augenblickliche Weltlage kann uns keinesfalls unberührt lassen. Auch so etwas muss ein Sänger reflektieren.

Ihre Gesangskarriere haben Sie beendet; aber werden Sie denn zu Weihnachten heimlich im Familienkreis ein bisschen singen?

Nein, mit dem Singen habe ich nichts mehr im Sinn. So halbe Sachen mag ich auch nicht… Ich höre mir in diesen Tagen einfach viel Musik an, ich habe ja eine Riesen-Plattensammlung. Da komme ich endlich mal dazu, meinen Nachholebedarf zu befriedigen.​

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