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Auftakt mit A

Image (5)Habe ich Ihnen schon von meinem Klavierlehrer erzählt? Habe ich nicht. Ich hatte ihn ja selbst schon beinahe vergessen. Neulich hat er sich bei mir gemeldet. Er habe seinem Herzen einfach mal Luft machen müssen, schrieb er mir. Wenn mein Klavierlehrer von Herzensdingen schreibt, kann es nur um Musik gehen. Um klassische Musik natürlich. Er sei ja nun nicht mehr so gut zu Fuß, teilt er mir mit. Also gehe er auch nicht mehr so oft ins Konzert. Man muss dazu wissen, früher, als er noch gut zu Fuß war, da vergingen keine zwei Tage ohne einen Konzertbesuch. Mein Klavierlehrer hatte mehrere Abonnements und war ein regelmäßiger Gast aller Festivals in der näheren und weiteren Umgebung. Sein Kriterium war dabei nicht die Entfernung, sondern ausschließlich die zu erwartende Qualität.

Seit er nicht mehr so viel unterwegs sei, so schreibt er mir nun, habe er sich ein stattliches Tonträgerarchiv zugelegt. Um aber nicht nur auf die vorhandenen Aufnahmen angewiesen zu sein, so heißt es weiter in seinem Brief, höre er ab und an auch mal Radio. Noch gäbe es sie ja, die ausgewiesenen und anspruchsvollen Kulturprogramme. Im öffentlich zwangsfinanzierten, so schreibt er, Hörfunk der ARD könne er regelmäßig interessante Raritäten finden. Zur Sommerzeit würden die Gebührensender in gewisser Weise zwar „gleichgeschaltet“ (habe ich schon erwähnt, dass mein Klavierlehrer ein älterer Herr ist? – ein kritischer älterer Herr, der, was in Anführungszeichen gehört, auch in Anführungszeichen setzt), das schade aber nicht, solange die Inhalte gut seien.

Und hier scheint nun der kritische Punkt im Brief meines bewunderungswürdigen Lehrers zu stehen. Inhalt und Qualität. Qualität und Inhalt. Ich erinnere mich, auch in den Klavierstunden habe er mich erst einmal spielen lassen, mir dann attestiert, wo ich Fortschritte gemacht habe, was ihn positiv überrascht oder ihm auch einfach nur gut gefallen habe. Mit solch einer Einleitung näherte er sich stets den kritischen Punkten. So auch in diesem Brief. Wie könne es denn sein, fragt er, dass ein Radiofestival jeden Abend seine klassische Hörerschaft vergrault, indem ihr vor allen Konzerten mehr oder minder dämliche Sentenzen eines jener Kabarettisten vorgesetzt werde, zu denen man nur mehr Comedian sagen könne? Dessen öffentlich-rechtliche Bezeichnung laute übrigens Götz als Mann. Ob ich davon schon mal gehört habe? Mein Klavierlehrer ist also noch immer ein Mann der starken Worte. So kenne ich ihn. An anderer Stelle mildert er ab und schreibt nur noch von „mezzo-intellektuellem“ Anspruch des Gastmoderators. Oder sollte erst diese Bezeichnung der wirklich starke Tobak sein? Konsequent, wie er immer schon war, habe mein Klavierlehrer die Flucht nach vorn angetreten und – nicht, ohne dem Unternehmen noch eine zweite Chance zu geben – auf die weitere Fortsetzung des ARD-Radiofestivals verzichtet.

Wir wissen auch nicht, wer oder was Götz als Mann ist. Die Nebenwirkungen kennen wir nun. Reihenweise entgeisterte Abschaltungen sind die Folge dieser mainstreamigen Ent-Geistung. Oder sollte mein einstiger Klavierlehrer inzwischen die Ausnahme sein? Ich werde ihm ein paar hoffnungsvolle Zeilen schreiben: Am 12. September soll das Radiofestival wieder vorbei sein. Gut möglich, dass Konzertabende anschließend wieder professionell angesagt werden.

In diesem Sinne viel Kultur und wenig Sorgen, bis nächsten Freitag –

Michael Ernst