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Keine Wahl ist auch keine Wahl

thielemann-globusWas wäre eigentlich gewesen, wenn Berlin in dieser Woche wirklich gewählt hätte? Gelebte Demokratie in der deutschen Hauptstadt – ist zwar selten, aber doch nicht ausgeschlossen. Warum also nicht? Das ganze Land, die halbe Welt womöglich, hatte am vergangenen Montag in den größten Ort an den Ufern der Spree gestarrt und wollte wissen, ob aus ihm, wenn schon kein Flieger von einem neuen Flughafen, so doch zumindest weißer Rauch aufsteigt. Erst wollte man noch wissen, was der denn wohl bedeuten möge. Namen, Konsequenzen, Ziele und Inhalte? Dann ging es irgendwie nur noch darum, wann er denn endlich, ob er wohl überhaupt noch … Zum Schluss wurde klargestellt, hier steigt diesmal nichts. Gar nichts.

Genau genommen waren es ja nur einige Insider aus der Musikwelt, die sich dafür interessierten, wer ab 2018 die Chefdirigentenposition bei den Berliner Philharmonikern innehaben wird. Und eigentlich starrten sie nur auf eine Kirche im Stadtteil Dahlem, denn dahin hatten sich die Mitglieder des renommierten Orchesters zurückgezogen, um im Beisein eines Notars über den Nachfolger von Simon Rattle abzustimmen. Zwölf lange Stunden im Nichts, vertane Übezeit.

Man war ihnen tatsächlich auf den Leim gegangen, hielt die Philharmoniker für ausgefuchste PR-Strategen und hätte drauf wetten mögen, dass spätestens zu den Abendnachrichten ein Name bekanntgegeben würde. Aber nichts da, erst zum Redaktionsschluss der meisten Tageszeitungen rückte man mit dem Ergebnis raus, dass es kein Ergebnis geben wird. Vielleicht im Laufe den kommenden Jahres. Sind das jetzt die Berliner Tempi?

Die Meute derer, die mit Kamera und teurer Technik vor dem kirchlichen Wahllokal ausgeharrt haben, das ansonsten wegen der guten Akustik seit Karajans Zeiten schon gern für Aufnahmen und Einspielungen genutzt wird, sie mag am ehesten entsetzt gewesen sein. Kostbare Zeit für nichts und gar nichts. Keine Wahl ist auch keine Wahl, taugt also nicht mal für ordentliche Schlagzeilen. In die allgemeine Demütigung tröpfelte dann auch noch die Erkenntnis, dass sogar das im Zusammenhang mit dieser Nicht-Wahl am meisten kolportierte Alleinstellungsmerkmal der Berliner Philharmoniker gar keines ist. „Das einzige Orchester weltweit, das seinen Chef demokratisch selbst wählt!“ Ha, eine Farce. Jedes gute Orchester praktiziert solch eine Abstimmung, nur macht kein anderes einen derartigen Hehl daraus. Auch die Sächsische Staatskapelle Dresden stimmt über ihre Chefs intern ab. Kein Träger eines Klangkörpers wird sich solch einer Entscheidung widersetzen, falls der oder die Erwählte nicht irgendwo das Tafelsilber mitgehen ließ.

Der Unterschied zwischen Staatskapelle und Philharmonikern ist freilich der, dass hier ein Ministerium den Musikchef ernennt, dort ein Stiftungsrat. Den Dresdnern wird inzwischen nachgesagt, dass sie schöner spielen als die Berliner. Schöner, nicht aber besser, mault der Hauptstädter hinterher. Einen weiteren Unterschied gibt es noch: Dresden hat Christian Thielemann, Berlin hätte ihn gern. Hat ihn ja schon mal gehabt, aber das waren noch die alten GMD-Zeiten an der Deutschen Oper von Götz Friedrich selig. Es dürfte mindestens eine Fraktion in der Philharmonie geben, die sich Thielemann wieder zurück an die Spree wünscht.

Oft genug ist der Dirigent in den vergangenen Wochen und Monaten auf den überbetont „berühmten“ 11. Mai angesprochen worden. Jedesmal hat er sich so oder so zurückgehalten, rollte mit den Augen und wollte das Thema wechseln. So hält man sich alle Optionen offen, gewiss. Unabhängig von derartigen Deutungsversuchen ist jedem Beobachter aber auch klar, dass die Früchte der bisherigen Dresdner Arbeit von Thielemann noch nicht eingebracht sind. Hier ist noch einiges möglich und sollte abgeerntet werden.

Bemerkenswert obendrein ist der Fakt, dass kaum wer den 11. Mai kommentiert. Die vorab gehandelten Kandidaten ohnehin nicht. Was also ist das Ergebnis dieser so atemlosen Woche? Die Welt dreht sich weiter.

Bis nächsten Freitag (und darüber hinaus, hoffentlich!) –

Michael Ernst