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Der Unbekannte kam und begann zu arbeiten

Foto: Bettina Stöß

Nur keinen Neid! Oder konnte man doch so etwas vermuten nach dem großen Erfolg für das Staatsballett Berlin am vergangenen Wochenende im Interimsquartier der Staatsoper, dem Berliner Schiller-Theater? Dem scheidenden Ballettchef Vladimir Malakhov war es endlich gelungen, seinen langjährigen Weggefährten Alexei Ratmansky zu bewegen, seiner Berliner Kompanie eine seiner Kreationen zu überlassen. Ratmansky ist derzeit ganz sicher einer der wichtigsten und gefragtesten Choreografen, wenn es um klassische und vor allem neoklassische Arbeiten geht. Er hat die russische Tradition im Blut, war Chef des Bolschoi-Balletts in Moskau und arbeitet jetzt vornehmlich in New York, wo er den Geist der Freiheit in der Nachfolge eines George Balanchine in freien Zügen genießt. Hier entstand auch 2010 sein großes Divertissement »Namouna« zur Musik von Édouard Lalo. Erstmals wurde mit dieser Kreation eine deutsche Kompanie für würdig erachtet, Ratmanskys Anforderungen gerecht werden zu können.

Viel Lob in der Hauptstadtpresse und darüber hinaus. Hier und da aber doch der Hinweis darauf, dass es aber dem Semperoper Ballett in Dresden als erster deutscher Kompanie gelungen ist, den viel gefragten Russen für eine Uraufführung zu gewinnen. Da kommen mehrere Dinge zusammen, erfuhr ich in einem Gespräch mit dem Choreografen. Er nahm sich Zeit, als er Anfang des Jahres hier war, um die Tänzerinnen und Tänzer kennenzulernen, mit ihnen zu probieren, zu improvisieren. Nach den Erfahrungen hat er über die Dresdner Kompanie und deren Arbeitsauffassung nur Gutes zu sagen. Und zur Musik von Richard Strauss, so sagt er, wollte er immer schon gerne choreografieren, zudem wenn die Musik von dem „Strauss-Orchester“ gespielt wird. Für den Ballettabend »Legenden – Hommage an Richard Strauss« wird er dessen Tanzsuite nach François Couperin choreografieren. Premiere ist am 28. Juni.

Abschiede von Takeshima und Sologub

Die Japanerin bleibt Dresden übrigens auf einem anderen Betätigungsfeld erhalten: Im Jahr 2002 führte Yumiko Takeshima, die als Kostümbildnerin unter anderem bereits für David Dawson, William Forsythe, Jorma Elo und Alexei Ratmansky gearbeitet hat, mit »Yumiko« ihre eigene Linie für Tanz- und Fitnessbekleidung ein. Sie wird das Label weiterhin aus ihrer Heimat Dresden führen. (Foto: Costin Radu)

Aktuell sollte man die Wiederaufnahme der »Giselle« nicht verpassen. Ab 9. April steht die Choreografie dieses Klassikers von David Dawson wieder auf dem Spielplan. In der Titelpartie gibt Courtney Richardson ihr Debüt, Fabien Voranger tanzt den Albrecht. Zur Uraufführung, am 9. März 2008, war Yumiko Takeshima als Giselle zu erleben, mit der Vorstellung am 22. April wird sich die charismatische Tänzerin von der Bühne verabschieden. Acht Jahre war sie erste Solistin in Dresden. Wer sie erlebt hat, in ganz unterschiedlichen Stilen, wird ihre zartgliedrige, zerbrechliche Eleganz, immer von vornehmer Zurückhaltung grundiert, nicht vergessen. Wie bei der Uraufführung von Dawsons zeitgemäßen Kreation dieser Kostbarkeit klassisch-romantischer Ballettkunst wird auch zum Abschied Raphaël Coumes-Marquet ihr Partner sein.

Nicht vergessen kann man auch die Begegnungen mit der Tänzerin Natalia Sologub mit ihrem weit gefächerten Repertoire. Seit 2006 ist sie erste Solistin in Dresden. Ich erinnere mich an ihre Exaktheit im klassischen Stil, wobei die Persönlichkeit nie verloren ging und ebenso an ihre expressiven Ausflüge in die Moderne. Auch sie nimmt Abschied von der Bühne als Giselle; ihr Partner ist am 11. April kein geringerer als Jiří Bubeníček.

David Dawson, der einige Jahre Dresdner Hauschoreograf war, konnte auch gewonnen werden, für die nächste Saison hier ein großes Handlungsballett zu kreieren. Und als wäre das ganz selbstverständlich, ein so selten gewordenes neoklassisches Ereignis ankündigen zu können, verkündete Ballettchef Aaron S. Watkin diese mittlere Sensation auf der Pressekonferenz zur Saison 2014/2015 in der Semperoper. Das neue Ballett folgt einer bekannten Geschichte, »Tristan und Isolde«, wer aber meinte dazu gäbe es einen Zusammenschnitt der schönsten Stellen aus Wagners Musikdrama, der wurde nochmals überrascht. Der junge polnische Komponist Szymon Brzóska schreibt eigens für dieses Ballett die Musik. Am 15. Februar nächsten Jahres ist Premiere.

Natalia Sologub und Jiri Bubenicek in »A Million Kisses to my Skin« (Foto: Costin Radu)

Und noch eine Überraschung. William Forsythes Megaspaß »Impressing the Czar« kommt ab 22. Mai kommenden Jahres in Dresden auf die Bühne der Semperoper. Forsythes so kühne wie virtuose und vor allem vor Humor berstende Arbeit von 1988 hat keinen Staub angesetzt. Zuletzt feierte das Königliche Ballett von Flandern vor vier Jahren damit Triumphe. Den Mittelteil dieses Dreiteilers zu Musik »In the Middle, Somewhat Elevated« haben die Dresdner ja schon seit einiger Zeit im Repertoire. Jetzt das ganze, starke Stück.

Dass die Dresdner Tänzerinnen und Tänzer in Sachen Forsythe einfach Spitze sind, hat sich herum gesprochen. Viermal geht die Kompanie in der neuen Saison auf Reisen, Gastspiele führen nach New York, in das Festspielhaus von St. Pölten in Österreich, nach Barcelona ins Gran Teatro Liceu und in die belgische Stadt Antwerpen.

Das Ballett derzeit krisenfrei! Was heißt derzeit; eigentlich ging es beständig aufwärts in den letzten Jahren. Und angesichts der aktuellen Querelen in der Oper kommt mir der Gedanke: wie war das eigentlich vor acht Jahren, als Aaron S. Watkin die Dresdner Kompanie übernahm? Hand aufs Herz, wer außer einigen Spezialisten, kannte den Mann denn? Und hatte er großen Wind gemacht, was er alles ändern wolle, auf welche Erfolge er schon verweisen könne? Nichts davon. Der eigentlich Unbekannte kam und begann zu arbeiten. Mag sein, nicht alles gelang auf Anhieb, aber das Vertrauen war doch schnell da, und jetzt freuen sich die Liebhaber klassischer Ballette hier diese leider immer seltener werdende Kunst zu erleben, und ihre Neugier ist auch geweckt, mal zu sehen, was ihre verehrten Tänzerinnen und Tänzer denn in den zeitgenössischen Formaten machen. Und siehe da, das funktioniert! Und wer sagt, dass junge Leute keine klassischen Ballette sehen möchten? Ich habe etliche solcher Vorstellungen erlebt mit sehr jungem Publikum.

Es gilt, den Versuch zu wagen… (Foto von Aaron S. Watkin: PR)
Einen Schritt aufs Publikum zu – und dann mitnehmen!

Also, man könnte da auf eine interessante Idee kommen. Wenn es darum geht, eine neue Leitungspersönlichkeit für die Oper zu finden: vielleicht wagt die Findungskommission ja den Versuch und traut einer jungen Persönlichkeit zu, behutsam auf die Traditionen des Hauses zu vertrauen und trotzdem neue Wege zu gehen? Das könnte doch besser sein als die übliche Vorstellung, etablierte Leute müssten alles, was sie schon andernorts ausprobiert haben, mitbringen und auffrischen.

Schöne Grüße also an die diejenigen, die den nächsten Staatsopern-Intendanten bestallen, wir wünschen Mut und ein gutes, ein besseres Händchen als beim letzten Mal. Wenn ich übrigens zurückblicke, dann ist Aaron S. Watkin mit "seiner" Kompanie, wobei er selbst besitzanzeigende Äußerungen nicht gebraucht, gerne einige Schritte auf das Publikum zu gegangen. Aber mit dem so gewonnenen Vertrauen konnte er es dann auch gewinnen mitzugehen, ein paar Schritte weiter sogar, auf ziemlich unbekanntes Terrain. Es war ja nicht immer so, dass man sich in Dresden drängte, moderne, mehrteilige Abende zu sehen. Und jetzt, ein richtiger Renner, »Bella Figura«!