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Der Blutdruck steigt, die Post geht ab

Kalte Füße für Kandinsky, im Regen stehen für Raffaels Madonna und dann kein Platz am Tisch des Herrn. Aber dann, am Abend, in der Scala, nein richtig: Teatro alla Scala di Milano! Und man wird´s nicht glauben, keine Oper, Ballett, das Ballett der Mailänder Scala.
Dresden lässt grüßen! Zwei große Namen in der Chefetage dieser weltberühmten Kompanie, Maitre principale: Laura Contardi und Professeur: Vladimir Derevianko. Letzterer war über zehn Jahre Chef des Balletts der Staatsoper in Dresden. Er hat die klassischen und neoklassischen Qualitäten wieder etabliert, er hat die ersten Arbeiten von Forsythe nach Dresden geholt, da war an Hellerau und alles was folgte oder nicht folgt, noch nicht zu denken. Zur Zeit Dereviankos hatte John Neumeier eigentlich die Position des Hauschoreografen an der Semperoper. Die schönsten Arbeiten von Uwe Scholz, den zu früh vollendeten, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum zehnten Mal jährt, sah ich hier. Stars vom Ballett der Pariser Oper tanzten in seinem Handlungsballett „Rot und Schwarz“, und nicht zu vergessen, Derevianko selbst war zu dieser Zeit ein begnadeter Tänzer.
Eine grandiose Tänzerin in Dresden war Laura Contardi. Unvergessen in Tom Schillings „Wahlverwandtschaften“ nach Goethe zur Musik von Franz Schuberts Streichquintett C-Dur.
Aber weder Derevianko noch die Contardi waren der Grund, weshalb ich mich gleich zu Beginn des neuen Jahres nach Mailand begeben habe. Die Oper, das sagte ich schon, war es auch nicht. Ja, klar, ich hätte mir „La Traviata“ ansehen können, aber wollte ich nicht, Violetta starb während meiner Abwesenheit, ich war in einem Café, ließ es mir gut gehen, dieweil Diana Damrau tödlich litt. Nein, ich wollte schon immer das Ballett in Mailand sehen und ich wollte etwas sehen, was ich nicht kannte. Auch den Startänzer dieser Kompanie, Roberto Bolle, wollte ich auf seinen Heimatbrettern erleben und mal nachprüfen, ob es stimmt, dass er gefeiert wird, auch in einer Repertoirevorstellung. Stimmt. Der Jubel war enorm als der Ballerino mit der jungenhaften Lässigkeit vor den Vorhang kam, mag sein, da geht bei den Verehrerinnen und Verehrern der Blutdruck hoch und die die Post ab, aber er ist eben ein grandioser Tänzer, da stimmt einfach alles, die klassische Technik – aber eben nicht als Demonstration – sondern als Können um gänzlich staubfrei zu brillieren. Keine Spur von Historienwahn, der Mann tanzt eben so virtuos und ist dabei ganz und gar kein Typ von gestern. 

Ballettfreunde werden sich erinnern: Roberto Bolle sprang auch schon über die Bühne der Semperoper. Ich habe ihn hier jedenfalls zwei Mal erlebt.
Im Scala-Shop gab es kein Foto von Bolle. Dafür die Callas auf Kissen, auf Taschen und Tassen. Ganz versteckt habe ich dann doch eine Postkarte in schwarz-weiß entdeckt, Carla Fracci als Giselle und Erik Bruhn zu ihren Füßen als Albrecht. Die Fracci habe ich auch in Dresden erlebt, über sechzig war sie schon und schwebte als Tanzlegende im großen Pas de deux aus „Onegin“ von John Cranko über die Semperbretter. Ihr Partner, ein junger Athlet, kein geringerer als der Tänzer Rex Harrington. Später dann habe ich die Fracci in Rom erlebt, meine Güte, das muss vor zehn Jahren gewesen sein. Es gab im Teatro Nazionale vier choreografische Fassungen von Claude Debussys „L´Après-Midi d´un Faune“: „Operazione Fauno“ hieß der Abend. Zunächst eine Rekonstruktion des Originals von Vaslav Nijinsky, dann die geniale Fassung von Jerome Robbins mit dem schlafenden Tänzer im Studio, dem im Traum die „Faunin“ erscheint, eine Interpretation von Amadeo Amodio und das Solo von Maurice Béjart, getanzt von Octavio Stanley. Und Carla Fracci? Sie war im „Original“ die Nymphe, La Ninfa. Da muss sie ja eigentlich mehr schreiten als tanzen. Aber was diesen Abend unvergesslich machte, war der Umstand, dass die in Italien so beliebte Tänzerin noch gar nicht zu sehen war. Lediglich die Fingerspitzen ihrer linken Hand waren knapp in der ersten Gasse des nachempfundenen Originalbühnenbildes von Leon Bakst mehr zu ahnen als zu sehen, da erhob sich das Publikum von den Plätzen und applaudierte dieser Künstlerin.
Aber zurück in die Gegenwart des Tanzes in Mailand, das geht – wie eben geschehen – gar nicht ohne Erinnerungen. Und die Erinnerungen an die ganz aktuelle Mailänder Ballettproduktion ist sehr stark und damit ist die Vorfreude groß. Die Vorfreude nämlich auf die nächste Premiere beim Semperoper Ballett, im Juni dieses Jahres, wenn in der getanzten Hommage an Richard Strauss der russische Choreograf Alexei Ratmansky sein Debüt in Dresden geben wird. Mit einer Uraufführung, er kreiert für das Dresdner Ballett ein Stück zu einem Divertimento des Jubilars Richard Strauss.
Meine Vorfreude ist begründet, denn in Mailand sah ich einen dreiteiligen Abend von Ratmansky, zunächst „Russian Seasons“, 2006 für das Moskauer Bolschoi-Ballett (hier war er Chef seit 2006, ab 2009 ist er Artist in Residence beim American Ballet Theatre in New York) geschaffen, dann „Concerto DSCH“, zum zweiten Klavierkonzert von Dmitri Schostakowitsch in der vorigen Saison an der Scala uraufgeführt und als Krönung Ratmaskys neueste Arbeit, „Opera“.
Diese Uraufführung beschwört zunächst optisch die Pracht der barocken Oper mit ihren Tanzeinlagen. Holly Hynes hat für die acht Tänzerinnen und die acht Tänzer des Corps de ballet herrliche, kriegerisch anmutende Kostüme mit dazugehörigem üppigem Kopfschmuck geschaffen. Etwas länger die Röcke der Damen wegen der geschmeidigen Eleganz, falls sie nicht amazonenhaft streitbar agieren, etwas kürzer für die Herren wegen der Freiheit für die fulminanten Sprünge in den von feiner Ironie gebrochenen Kampfessprüngen, die Ratmansky ihnen in die gestählten Beine choreografiert hat.
Dazu zwei Solistenpaare der Spitzenklasse, ganz in blau, Emanuela Montanari und Mick Zeni und in roter Pracht der Kostüme Beatrice Carbone und Roberto Bolle.
Das Ganze spielt vor Wendall Harringtons opulenten Projektionen barocker Motive der Darstellung des Universums im raffinierten Licht von Stanley. Die dazu von Leonid Desyatnikov komponierte Musik für Sopran, Mezzosopran, Tenor und Orchester orientiert sich an barocker Opernmanier. Die verwendeten Texte des Pietro Metastasio sind den Opern „Temistocle“, „Demetrio“ und „Adriano in Sira“ entnommen. Also genügend Anlass für Kampfeslust und Liebeslist, für Krieger und Bräute, für militante Marschanordnung und zärtliche Annäherung, für Konkurrenz, Duette und Duelle bis es blitzt.
Blitzgescheit und funkelnd in ihrer Brillanz hat Ratmansky die technischen Möglichkeiten der Kompanie auf die Spitze getrieben, zum barocken Bild des Universums kommt das des Tanzes, höfische Akkuratesse und im scharfen Schnitt der Übermut des Sprunges. Die Brillanz des schwebenden Spitzentanzes ohne jemals zu trippeln und die kraftvolle Geste der konkurrierenden Kavaliere in rot und blau.
Natürlich ist Roberto Bolle der Star des Abends, in seiner so natürlichen wie lässigen Art, jedoch bei höchster Präzision, weist er im Verein mit den choreografischen Anforderungen Ratmanskys unmissverständlich darauf hin, wie wandlungsfähig das Ballett ist, und welche Überraschungen ganz sicher noch zu erwarten sind, denn in das so historisch orientierte wie ironisch gebrochene Tableau zum Finale fährt schon ein Blitz aus dem auch nicht mehr so ganz barocken Bild des himmlischen Theaters. So mag sich Alexei Ratmanskys Kunst vielleicht beschreiben lassen: sie ist der Tradition verpflichtet aber eben nicht verhaftet. Sie hechelt dem Effekt nicht hinterher, er stellt sich ein, und immer wieder blitzt sie auf, jene unverzichtbare Leichtigkeit des Tanzes, ganz nahe schon an der Schwelle zur Seelentiefe, um einem Gedanken von Walter Sorell zu folgen.
Ach so, und wie war das mit den kalten Füßen für Kandinsky? Na ja, das Wetter war nicht so toll. Also auf in die Museen und Ausstellungen. So dachten viele. Also anstehen, mit Erfolg bei Raffael und bei Kandinsky, keine Chance bei Leonardo da Vinci, auf mindestens 14 Tage im Voraus sind die Minuten vergeben, im Refektorium von Santa Maria delle Grazie wenigstens für einige Minuten einen Blick auf das Bild des Abendmahls zu werfen. Na gut, man kann nicht alles haben, und immerhin, wer in Italien hungrig von dannen zieht, ist selber schuld.

Zusammengefasst, das Jahr hat gut begonnen. Bis Montag, gute Wünsche! Dann sende ich einen Gruß von der Moldau, aus Prag. „Tannhäuser“ gibt es in der Staatsoper, und vor dem Nationaltheater sollen die Fans jetzt schon anstehen, um noch eine Karte zu erhaschen. Die Prager Tänzerzwillinge Jiří und Otto Bubeníček laden nämlich ein zu einer Gala mit ausschließlich eigenen Choreografien. Natürlich tanzen sie auch selbst und natürlich mit etlichen Kolleginnen und Kollegen aus Dresden.