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Ein halber „Ring“ in der Wagnerstadt

Leipzig hat bekanntlich „Ring“-Geschichte geschrieben: 1878 gab es im heute nicht mehr bestehenden Opernhaus die erste Aufführung der Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ außerhalb des Festspielhauses von Bayreuth zu sehen. Genau einhundert Jahre danach wurde der Zyklus dann letztmals in Richard Wagners Vaterstadt gezeigt. Seitdem gab es vier Jahrzehnte „Ring“-frei. Zum 200. Geburtstag des Dichter-Komponisten startete man nun endlich eine Neuauflage.

Vorher tönten sehr unterschiedliche Auffassungen: Muss Leipzig zwangsläufig in die national und international zelebrierten „Ring“-Reigen mit einstimmen, oder darf man sich ausgerechnet hier dem Kult verweigern? Geradezu trotzig hatte die Oper lange darauf bestanden, um 2013 herum nicht zu spielen, was „alle“ spielen, sondern etwas ganz Eigenes zu bringen, den sogenannten „Gluck-Ring“ (bestehend aus Christoph Willibald Glucks „Alkestis“, „Iphigenie in Aulis“, „Iphigenie auf Tauris“ und „Armida“). Inzwischen wird freilich in Frage gestellt – dem vom Stadtmarketing tapfer erhobenen Slogan „Richard ist Leipziger“ zum Trotz –, ob der in Dresden aufgewachsene Dichter-Komponist überhaupt in Leipzig geboren worden ist. Denn im Frühjahr 1813 tobte dort, was als Völkerschlacht in die Annalen eingegangen ist. Das Wohnhaus der Wagners stand direkt im Stadtzentrum, am Brühl, eine Zuflucht wusste die Familie aber im nahen Stötteritz. Als Königlicher Polizeiamtsaktuarius hatte Vater Carl Friedrich Wilhelm Wagner gewiss einigen Einblick in erwartete Kampfhandlungen. Es klingt also plausibel, dass er die Seinen rechtzeitig vor der Niederkunft von Ehefrau Johanna Rosine in den heute längst eingemeindeten Vorort ausquartieren ließ. Die für damalige Zeiten arg späte Kindstaufe drei Monate nach Richards Geburt erhärtet diese These durchaus.

Wie um all solche Wogen zu glätten, wurde an der Pleiße nun doch ein „Ring“ in Angriff genommen; genau vierzig Jahre nach der legendären Inszenierung von Joachim Herz, die 1976 mit der „Götterdämmerung“ abgeschlossen war. Hausherr Ulf Schirmer, seit 2009 Generalmusikdirektor und zwei Jahre später auch Intendant in Leipzig geworden, hat das Wagnersche Wagnis endlich erzwungen – und die Stadt so vor einer Blamage bewahrt.

Der Palazzo, schon im Wanken (Fotos: Tom Schulze)

Mit dem Inszenierungsteam Rosamund Gilmore (Regie), Carl Friedrich Oberle (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) blieb dies auch dem Haus erspart, zumal sich das Gewandhausorchester unter Schirmer zur Premiere des „Rheingolds“ noch als Sachwalter Wagnerscher Klangspektren erwies. Da wurde eindrucksvoll musiziert, mit reichen Klangfarben, bestens präparierten Stimmgruppen, die meist perfekt miteinander harmonierten. Ein insgesamt etwas hölzernes Timbre bot letztlich passende Grundlage zum furiosen Aufbrausen des Apparats, der seiner einstigen Wagner-Tradition kaum etwas schuldig geblieben ist.

Bei der jetzt herausgekommenen „Walküre“ konnte an die musikalischen Qualitäten des Vorabends nicht ganz angeknüpft werden. Der Erste Tag des Bühnenfestspiels endete mit einen Buh-Konzert, das über Orchester und musikalischen Leiter hinwegfegte. Ulf Schirmer schlug arg verhaltene Tempi an, ließ Themen- und Spannungsbögen aber nie abreißen und baute wirkungsvolle Pracht auf. Es gab keinerlei Durchhängen, wenngleich die fünf Stunden Dauer des Premierenabends wortwörtlich in seinen GMD-Händen lagen. Die hätten so manchen klappernden Einsatz vermeiden müssen, hätten gewiss auch bei der Dynamik eingreifen sollen, um Wagnerscher Klanggewalt mehr Farbe zu geben und die Sänger-Darsteller nicht vorsätzlich zu boykottieren. Doch so blieb das um beste Textverständlichkeit bemühte Ensemble oft zugedeckt, stolperten die Walküren nahezu taktlos und wurde manches Blech im Premiereneifer recht vorwitzig geblasen. Von Aufnahmequalität ist Leipzigs neuer „Ring“ also noch weit entfernt.

Zur Halbzeit aber kann konstatiert werden, dass es sich durchaus lohnt, wagnerianisch nach Leipzig zu pilgern. Zumal dieser „Ring“ irgendwann in einem Gesamtkonzept zu erleben sein wird. „Siegfried“ folgt in der nächsten Saison. Ein Jahr später wird dann die „Götterdämmerung“ als Finale gesetzt.

Mit Bezügen zu Tradition und Biografie arbeitete sich die britische Regisseurin Rosamund Gilmore an „Rheingold“ und „Walküre“ heran. Modernistische Zugaben wie gefrorene Bilder im Vorabend gehörten dazu ebenso wie die Entstehungszeit dieser 1869 uraufgeführten Oper bedienende Einfälle. Selbstredend wird auch das gesellschaftskritische Deuten à la Herz noch einmal aufgegriffen. Denn die Götterwelt um Wotan hat abgewirtschaftet, ist spätestens mit dem Eingriff in die Natur – fortgesetztem Raub des Goldes – unaufhaltsam ins Wanken geraten. Fluch folgt auf Verrat, wo Verträge nichts taugen und Macht nur noch der Macht dient. Die Protagonisten im „Rheingold“ waren Menschen aus Fleisch und Blut, ein gieriger Alberich von Jürgen Linn, ein gemeiner Wotan von Tuomas Pursio, ein gerissener Loge von Thomas Mohr, eine lebendige Freia von Sandra Trattnigg, ein liebender Fasolt von Stephan Klemm, eine distinguierte Fricka von Karin Lovelius. Gleich einer Geschäftsfrau, die machtlos dem Sturz des Familienimperiums zusehen muss. Dabei war dies erst der Anfang, doch schon da zeigte Loge sich weitsichtig, als er zum Schluss kommentiert: „Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen.“

Da sind gewiss nicht die barmenden Rheintöchter gemeint gewesen, die zu Beginn so prüde sexistisch den liebestollen Zwergen umgarnten, bis er um der Macht willen der Liebe entsagt. Durch den zwar kurzweiligen, insgesamt aber weder auf- noch anregenden Abend hatte ein Dutzend Tanzfiguren begleitet, die anfangs in personifiziertes Eis gegossen schienen, die Handlung dann aber auch bewegt kommentierten und später – wie um das abgründige Göttergehabe zu unterstreichen – als fossile Reptilien knöchern mit Dinoschädeln zu agieren. Als Rhein und zum Planschen stand ein Bassin auf der Bühne. Die Mauern zwischen Nibelheim und Walhall waren mit Dürerschem Rasen besetzt; die Burg wirkte bereits morbide, bevor sie in Besitz genommen ward. Immerhin schritt man Wagners Anweisung gemäß im Zeichen des Regenbogens zum bröselnden Reich.

„Die Walküre“ nun könnte man als nachträgliches Geburtstagsgeschenk sehen, an dem Richard Wagner gewiss seine Freude gehabt hätte. Erstes wegen der Rehabilitierung, da es seine Vaterstadt zu Lebzeiten nie sonderlich gut mit des Meisters Musikschaffen meinte. Zweitens, weil nach dem zunehmend verklärten „Ring“ von Joachim Herz endlich ein neues Herangehen gewagt wird. Drittens und weiters wegen der Konsequenz, die Tetralogie wieder in die Hände eines festen Teams zu geben sowie wegen energischer Ambitionen des Gewandhausorchesters, sich Wagners würdig zu erweisen.

Wotan (Markus Marquardt) und Brünnhilde (Eva Johansson)

Um all dies zu erfüllen, hätte es jedoch eines stringenteren Herangehens bedurft, sowohl musikalisch als auch auf der Bühne. Stimmlich taten sich allerdings Kathrin Göring als Fricka, Markus Marquardt als Wotan sowie Christiane Libor und Guy Mannheim als Sieglinde und Siegmund hervor. Überrascht hat die Brünnhilde von Eva Johansson mit zwar vokaler Kraft, doch mangelnder Höhensicherheit Kein Wunder, dass Siegvater Wotan als „Unfreiester aller Götterväter“ sie abgestraft und in einen – pyromanisch recht billigen – Feuerkreis gelegt hat.

In den gemeinsamen Handschriften von Regisseurin Rosamund Gilmore, Bühnenbildner Carl Friedrich Oberle und Kostümbildnerin Nicola Reichert wird das zwar frische, doch gleichsam unbestimmte Herangehen an Wagners Opus magnum fortgesetzt, wie es nach dem „Rheingold“ schon zu erwarten war. Konsequent hat jeder Aufzug ein eigenes Bild. Die „Walküre“ startete logisch mit Hundings Heim, einem um die Weltesche herum gebauten Bunker. Darin jede Menge Gewehre, die passionierten Wilddieben gut anstünden, im Kampf gegen Nothung jedoch weder fair noch zeitgemäß sind, womöglich eine Anspielung an Wagners kurze Dresdner Revolutionsphase sein sollten. Reichlich bemüht geriet in diesem Ambiente die Liebesszene der beiden überaus voluminösen Geschwister am Küchentisch, wo der Held für den Zweiten Tag („Siegfried“ soll in der nächsten Spielzeit in Leipzig herauskommen) gezeugt wurde.

Biografisch wird die große Wotan-Erzählung in einer zerrissenen Villa Wahnfried ausgetragen, wo Fricka zunehmend Oberwasser gewinnt. Vielleicht ein Ringen zwischen Richard und Cosima? Kathrin Göring macht eine Paraderolle daraus, gibt erst ganz das frustrierte und bigotte Wohlstandsweib, hat das Psychospiel mit ihrem Göttergatten Wotan aber bald so in der Hand, dass allein sie die Bedingungen stellt. Da hilft dem Manne („ich Unfreiester aller“!) kein Jammern. Markus Marquardt mimt hier weniger leidenschaftlich denn fügsam geknickt.

Siegmund ist da schon längst von Sieglindes Ekelpaket Hunding im feigen Nahkampf erschossen worden – und Wagner wie Wotan werden nie geahnt haben, wie sehr sich die jeweilige Gattin noch ins eigene Schaffen einmischen mag. Wie dräuende Zukunftsschatten lagern Militärmäntel und Helme am Boden, die sich schließlich für den Bühnenumbau personifiziert erheben, als ginge es gleich in die Winterschlacht des Ersten Weltkriegs.

Doch das dritte Bild führt in einen anderen Sumpf, nimmt sinnbildlich den Verfall aller Werte am angedeuteten Sterbehaus Wagners in Venedig vorweg. Der Palazzo Vendramin-Calergi steht schräg und scheint gleich zu versinken. Die Welt ist ins Wanken geraten, sie muss – zur Halbzeit dieses „Rings“ jedenfalls – noch ein wenig ausharren, da die „Götterdämmerung“ erst in der Spielzeit 2014/15 den Schlussstein setzt. Bis dahin darf noch gehofft werden.

Termine: 22. Dezember 2013, 5. und 11. Januar 2014