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Die ganz legale Droge Charms

Foto: Wolfgang Silveri

„Wer einmal Daniil Charms probiert hat, wird ihn nicht mehr vergessen und nach mehr verlangen – denn mit diesem Dichter ist fast alles auszuhalten“, so der Schriftsteller Ingo Schulze, am 3. Dezember 2002, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Man hatte noch ein Stück von Charms gefunden, erstmals im Druck der Friedenauer Presse, übersetzt von Peter Urban, „Zirkus Šardam“, Vorstellung in zwei Akten. Gleichzeitig, im gleichen Verlag, erschien Urbans Ausgabe „Fälle“. Prosa. Szenen. Dialoge.
Schulze bezog sich in seinem Text zunächst auf den russischen Schriftsteller Wladimir Sorokin, in dessen Stück „Dostojewski Trip“ Schriftsteller zu Drogen werden, die „fraglos beste Droge ist Charms“, so Schulze; und für Sorokin bedeutet das, „Mit Charms ist alles auszuhalten. Sogar Gorki.“

Daniil Charms wurde 1905 in St. Petersburg geboren, er starb am 2. Februar 1942, im Blockadewinter, in Leningrad, im berüchtigten Gefängnis Kresty. Am 23. August 1942 war der Dichter zum zweiten Mal verhaftet worden, diese Haft überlebt er nicht. Der Hungerkünstler Daniil Charms – verhungert? Andere sagen, er wurde einfach vergessen. Man hielt ihn für geisteskrank. Was er schrieb, war unverständlich. Außerdem legte man ihm „Verbreitung defätistischer Schriften“ zur Last. Er habe sich auch auffällig gekleidet und war vielleicht ein Jude. Drei Gründe, in Stalins Reich verhaftet und vergessen zu werden, oder zu jenem Rest zu gehören, von dem es lapidar in einer Verordnung vom 21. September 1941 heißt: „…Rest verhungern lassen“.

Der Hunger war Charms und seinen Künstlerkollegen nicht fremd, Verhaftungen, Ermordungen, das plötzliche Verschwinden eines Menschen gehörten zur Alltäglichkeit. So verwundert es nicht, dass bei Charms die Menschen einfach fallen. Vom Dach, aus dem Fenster, überhaupt, auf der Straße. Menschen verschwinden, oder sie sind gar nicht da, oder nur noch so rudimentär, dass es keinen Sinn mehr macht, überhaupt von ihnen zu sprechen, oder weshalb es sich lohnt darüber zu schreiben, dass man vor nichts Angst habe, nicht einmal vor Spinnen. Charms, der Autor von Kinderbüchern, die zu Lebzeiten und dann auch in der Sowjetunion erschienen, dessen Werke aber ansonsten verboten waren und nicht gedruckt wurden, bleib zeitlebens ein Meister der Kunst am kindlichen Spiel, darauf hat Martin Mosebach in der „Zeit“ vom 6. Februar 2003 hingewiesen.

Mosebach weist auch darauf hin, dass es nur teilweise richtig ist, Charms einen absurden Dichter zu nennen, für ihn, so Mosebach, hatte mit Stalin König Ubu den „Untergrund der Fantasie verlassen“, und war zum „realen Herrscher Russlands geworden“. Die surrealistisch anmutenden Szenen bei Charms, die er vorausahnend oder in der Verzweiflung des Beobachters geschrieben hatte, waren Realität: „Menschen wurden ohne nachvollziehbaren Grund abgeholt, verschwanden, wurden gefoltert; die Kalkgruben, in die Charms plärrende Kinder werfen lassen wollte, gab es auf einmal wirklich im Weichbild von Leningrad. Unmerklich nehmen die Charms-Skizzen den Charakter von Schilderungen der Wirklichkeit an.“
„Die Kunst ist ein Schrank“, so eine eine Sammlung der Notizbücher des Dichters von Peter Urban, die 1992 erschien. Es gibt zum einen das Gedicht „Die Mutter stand im Schrank“, im Schrank hausen die gespenstischen Häscher, die die junge Elisaveta Bam* in seinem gleichnamigen Stück in die Verzweiflung treiben. Auf einem Schrank saß der Dichter im Leningrader Künstlerhaus an der Fontanka und rezitierte seine Texte. Vielleicht auch diesen, der sich in den Notizen des Jahres 1930 findet: „Halt! Bleiben Sie stehen und hören Sie, was für eine erstaunliche Geschichte. Ich weiß nicht mal, mit welchem Ende ich anfangen soll. Es ist einfach unwahrscheinlich…“

Im Rahmen des Nordwind Festivals gibt es jetzt die Gelegenheit, von der Droge Charms zu kosten. In einer belgisch-isländischen Produktion von A Two Dogs Company und Kris Verdonck kommen die „Zwischenfälle“ auf die Bühne des Festspielhauses. Angekündigt ist ein „virtuoses Sprach- und Maschinentheater, bedrohlich und zugleich in in scheinbar kindlicher Phantasie befangen. Seine Protagonisten fallen aus Schränken, lösen sich auf, verschwinden spurlos, sterben.“

Donnerstag, 28. November, 20.00 Uhr, Hellerau, Europäisches Zentrum der Künste 

*) »Elisaveta Bam oder die Kunst ist ein Schrank« gab es erstmals in Dresden zu Beginn der 90er Jahre in einer Produktion der Gruppe Traumtanz im projekttheater zu sehen; später als Oper in einer Inszenierung der der Sächsischen Staatsoper in der kleinen szene.