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Ein Marathon oder ein Kosmos?

Foto: Jim Rakete

Musik braucht keinen Marathon. Und Johann Sebastian Bach braucht keinen Sport. Wenn die Komplettaufführung aller sechs Solosuiten aber so effektheischend angekündigt wird, ist zumindest sicher, dass der nach wie vor beste Dresdner Konzertsaal ausverkauft ist. Sogar noch ein paar zusätzliche Stühle mussten auf die Bühne der Musikhochschule am Wettiner Platz gestellt werden.
Am Start: Jan Vogler, Dresdner aus Leidenschaft, 1964 in Berlin geboren und seit vielen Jahren in der Welt der Musik zu Hause. Und in New York. Dort am Hudson River hat er vor knapp einem Jahr an insgesamt sechs Aufnahmetagen die sechs Solosuiten von Johann Sebastian Bach für CD eingespielt (Sony Classical 88697892572). Schon diese Aufnahmen sind Ausdruck für einen auch seelischen Kraftakt. Das Hineintauchen in diese universelle Musik geht über den rein körperlichen Einsatz hinaus. Ein Durchdringen des Bachschen Kosmos' ist da vonnöten, auch: ein Durchdringen-Wollen.
Jan Vogler wollte, natürlich. Als heutiger Interpret wollte er womöglich dem Schatz auf die Spur kommen, der in diesen sechs vor rund 300 Jahren entstanden Suiten BWV 1007 bis 1012 steckt. Ihn für sich – und für sein Publikum – entdecken. Mit seinem Instrument, einem nahezu zeitgleich zu den Suiten entstandenen Stradivari-Cello, und in diesem Saal hatte er beste Voraussetzungen dafür. Ein aufmerksames Publikum, das dem Cellisten und der Musik quasi zu Füßen lag.
Vogler nahm ordentlich Anlauf und ließ die G-Dur-Suite Nr. 1 so organisch wie behutsam ertönen, er meisterte in den ersten zwei Sätzen einen kathedralischen Klang, geriet aber im dritten, Courante, aus dem Tritt. Bei solch einem Marathon über gut 42 Kilometer respektive 36 einzelne Sätze liegen die Stolpersteine an den unübersichtlichsten Stellen. Da heißt es, Disziplin zu üben und die Kräfte einteilen. Zu hohes Tempo kann, wie überall im Leben, auch hier sehr gefährlich sein. Die Sarabande geriet dann wieder gediegen voll Opulenz und Eleganz, da gab es kaum hörbare Fehltritte. Und überhaupt drückt sich künstlerische Souveränität vor allem ja nicht dadurch aus, mal einen Viertelton danebenzugreifen oder einen Lagenwechsel leicht anzuschleifen, sondern eingedenk solcher mit einer lebendigen Spielweise notgedrungen verbundenen Zäsuren im Konzept zu bleiben. Mit anderen Worten: Stolpern ist möglich, es kommt aber aufs Weiterlaufen an.
Gut zweieinhalb Stunden später stürmte Vogler dem Ziel entgegen. Nach höchst lyrischen Momenten in der Suite Nr. 4 und der altmeisterlich gestimmten Nr. 5 hebt die Mehrstimmigkeit der Nr. 6 an, der krönende Abschluss dieser zwei Zyklen. Jan Vogler holte aus seinem Instrument einmal mehr kraftvolle Basslinien heraus, die das nicht immer ganz präzise Spiel in den hohen Lagen zwar satt grundierten, aber eben auch ins Verhältnis zum eigentlich Möglichen setzen.
Ziel erreicht? Das wäre ein knappes, ein viel zu knappes Resümee dieser grandiosen Tour de Force. Es gab mindestens drei gleichberechtigte Sieger in diesem Rennen aus sechs mal sechs Sätzen: Johann Sebastian Bach, Antonio Stradivari und Jan Vogler. Wer mit solchen Namen in einem Atemzug genannt wird, den lässt das Publikum natürlich nicht ohne Zugabe gehen. Nach einem Blumenstrauß aus den Händen des Rektors spielte Vogler noch einmal zwei Sätze vom Anfang. Ein Kosmos, in sich geschlossen, und dennoch in alle Welt offen.