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Und ich konnte nicht dabei sein!

Es war ein Tag vor meinem 21. Geburtstag. Vergesse ich nie. Diese Erinnerung an eine Aufführung, die ich nicht erlebt habe. Mittwoch, der 15. Mai 1968. In Dresden, im Großen Haus gab es »Tristan und Isolde«, ich konnte nicht hinfahren, es ging nicht, wahrscheinlich kein Geld. In Dresden gab es an diesem Abend nicht nur Wagners Liebesdrama in drei Aufzügen und fast fünf Stunden Todestrunkenheit, es gab eine Aufführung, für die eine außergewöhnliche Besetzung angekündigt war und alle kamen, keine kurzfristigen Absagen, keine Indispositionen, keine Einspringer, die von der Seite sangen dieweil andere auf der Szene Stummfilme nachahmten.

Da war zunächst der Tenor Claude Heater als Tristan. Vom Broadway nach Bayreuth, zwei Jahre zuvor hatte er auf dem berühmten Grünen Hügel noch innerhalb eines Festspielsommers seinen endgültigen Wechsel vom Bariton zum Wagnertenor vollzogen, erst sang er den Melot in »Tristan und Isolde«, dann den Siegmund in »Die Walküre« und jetzt den Tristan in Dresden. Seine Isolde in Dresden war Astrid Varnay. Ihr einziger Auftritt hier. Zugegeben, über diese Sängerin, deren Stärken Tiefe und Mittellage waren, als hätte sie zunächst im Mezzo-Fach gesungen, was aber nicht der Fall war, deren Höhen mitunter schon recht scharf und angestrengt klangen, gibt es unterschiedliche Meinungen. Einig ist am sich aber darin, sie war eine beeindruckende Bühnenerscheinung und ihre Karriere, die 1941 an der Met in New York als Sieglinde in »Die Walküre« und wenige Tage später als »Brünnhilde« in die »Götterdämmerung« begann währte ganze 54 Jahre.

Erst 1995 nahm sie als Witwe Begbick in »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Kurt Weill, an der Bayerischen Staatsoper ihren Abschied von der Opernbühne. Auch Jens Malte Fischer macht in seinem Buch »Große Stimmen« auf die vokalen Probleme ihrer gesanglichen Leistungen aufmerksam, »aber sie werden überstrahlt von der Erinnerung an eine der größten Sänger-Schauspielerinnen dieses Jahrhunderts.« So, und nun stand diese Sängerin, die von 1951 bis 1967 in jedem Sommer in Bayreuth gesungen hatte, schon 1952 die Partie der Isolde, in Dresden auf der Bühne. Und ich konnte nicht dabei sein. Es gibt gar nicht so viele Studioaufnahmen mit der Varnay, eher Mitschnitte, und sie gehört ganz sicher zu den Sängerinnen und Sängern, die man erlebt haben muss, wo der Klang allein das Gesamterlebnis nur bedingt wiederzugeben vermag.

Vor mir liegt der Besetzungszettel vom 15.Mai 1968, meine Güte, Theo Adam als König Marke, Hajo Müller als Kurvenal, Arno Schellenberg war Melot und Annelies Burmeister die Brangäne, Johannes Kemter der Hirte, Wilfried Schaal der Steuermann und Peter Schreier der junge Steuermann. Am Pult der Staatskapelle stand damals Heinz Bongartz. Astrod Varnay wäre in diesem Jahr 95 Jahre alt geworden, sie starb 2006 im Alter von 88 Jahren in München, wo sich die in Schweden geborene Sängerin mit ungarischen Wurzeln, niedergelassen hatte.

So, aber jetzt unter »V« nur noch Sängerinnen und Sänger, die ich in Opern von Richard Wagner erlebt habe, in Berlin und in Dresden. Die Erinnerungen sind unterschiedlich. Bei Waltraud Vogel, die ich in den Jahren ihres Engagements von 1990 bis 1996 in Dresden mehrfach in der Semperoper als Eva in »Die Meistersinger von Nürnberg« oder als Senta in »Der Fliegende Holländer« gehört habe, habe ich kaum mehr Erinnerungen als an jeweils höchst solide und sicher gesungene Partien, ganz sicher unverzichtbar für die Qualität des Repertoires. Anders bei dem Bassbariton Siegfried Vogel, er war in der ersten Hälfte der Sechziger Jahre fest in Dresden, dann in Berlin und zunehmend international unterwegs, 1982 bis 1989 sang er in Bayreuth.

Der Chemnitzer studierte in Dresden, unter anderem war er Schüler von Johannes Kemter. Vogel begann im Dresdner Opernstudio, dann folgten Partien in Opern von Mozart, Figaro, Leporello, Alfonso. Vielleicht erwarb er sich damit eine Grundlage, die es für ihn möglich machte, auch als seine Stimme an Volumen gewann, als er den König Heinrich in »Lohengrin«, den Titurel in »Parsifal«, den Daland in »Der Fliegende Holländer«, vor allem aber den Hans Sachs in »Die Meistersinger von Nürnberg«, in Berlin und Dresden sang, wo ich ihn oft erlebt habe, immer sehr sanglich, der Melodik verpflichtet zu bleiben. Die Sopranistin Jutta Vulpius, vor allem im Koloraturfach, Konstanze in »Die Entführung aus dem Serail«, Königin der Nacht in »Die Zauberflöte« oder Fiordiligi in »Così fan tutte«, schaffte es als Zaubermädchen und Woglinde auch auf den berühmten Grünen Hügel. Als Wagnersängerin wird man sie nicht bezeichnen, ich erinnere mich aber gut an eine Aufführung jener Meistersinger-Inszenierung, mit dem unter »L« beschriebenen Desaster für die Sängerin der Eva zur Premiere 1968, in der sie dann später auch diese Partie übernommen hatte. Eine charaktervolle Gestaltung, eine Eva, die sich durchsetzte, nicht zuletzt wegen der Klarheit ihres im Koloraturfach geschulten Soprans.

Und noch ein Tenor. Einer der eigentlich seinen Weg in Dresden begann, auf dem er offensichtlich nun so berühmt und gefragt wurde, dass es sehr selten geworden ist, ihn wieder hier zu erleben. Immerhin, nachdem er seinen Schritt in Wagnerfach vollzogen hatte und 2007 als Walter von Stolzing nach Bayreuth eingeladen wurde, betrat er als junger, romantischer Lohengrin mit wehendem blondem Haar 2009 die Bühne der Semperoper. Ein Jahr später war Klaus Florian Vogt der Schwanenritter von Bayreuth, inzwischen singt er auch den Parsifal und den Siegmund, nur leider nicht in Dresden. Klaus Florian Vogt gehört für mich zu den Tenören einer neuen Generation im Wagnerfach. Sie legen es nicht darauf an ihre Kräfte bewundern zu lassen, sie lasse der Gesangsstimme ein hohes Mass an Natürlichkeit, sie haben die Lyrik und die leisen Töne zurück geholt zugunsten höherer Glaubwürdigkeit. Insofern sind die Erinnerungen an Dresdner Abende mit Klaus Florian Vogt mit die schönsten der jüngeren Vergangenheit meiner Wagnerzeit.