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Ich blöke nicht!

Wilma Lipp (*1925)

Lang, lang ist´s her, es war der 8. Mai 1968, in der Berliner Staatsoper. Premiere, Richard Wagner, „Die Meistersinger von Nürnberg“, ein Ereignis, das sich bei mir tief eingeprägt hat und dessen Szenen ich immer noch sehe. Natürlich gab es keine Karten, bzw. ein Student konnte sich keine leisten. Die begehrten Plätze im dritten Rang, sichtbehindert, für zwei Mark und fünf Pfennige der DDR waren längst weg. Aber es gab immer eine Chance. Es gab da einen älteren Herrn an der Kasse, so eine graue Eminenz, und der fand in letzter Minute immer noch eine Möglichkeit, uns armen Fans einen Platz zu verschaffen. In letzter Minute also doch noch hoch und erst mal gespäht, wo im Parkett noch Plätze frei sind, damit man die sofort in der ersten Pause belegen kann! Das hat geklappt; ich saß Parkettmitte und ließ mich gefangen nehmen von den romantischen Bildern der Bühne von Paul Pilowski, von der entsprechenden Regie Werner Kelchs und erlebte einen Abend unter Otmar Suitner, und das war etwas Besonderes, so sagten alle die es wissen mussten, auch der von allen bewunderte asketische Altphilologe und Philosoph Jörg Milbradt – ein Mao-Anzug war sein Zeichen – er war später Librettist für die Werke des Dresdner Komponisten Jörg Herchet und bis zu seiner Pensionierung vor ein paar Jahren in hoher Funktion im Brandenburgischen Innenministerium.

Zudem sang Theo Adam den Hans Sachs, Martin Ritzmann den Stolzing, und was den heutigen Buchstaben des Wagner Alphabets angeht, es waren einige „Ls“ dabei: Horst Lunow, leider schon 1979, im Alter von nur 50 Jahren verstorben, sang den Nachtigall, auch andernorts, in Dessau etwa, war er in kleineren und mittleren Wagnerpartien unterwegs. Es gab noch ein ganz großes „L“ in dieser Aufführung: Günther Leib als Beckmesser. Leib, schon seit 1964 freischaffend, Professor an den Musikhochschulen Berlin und Dresden, gastierte von da an in dieser Partie weltweit. Er war der Beckmesser in Salzburg, an der MET in New York. In Dresden sang er seit 1963 den Wolfram in „Tannhäuser“, in der Berliner Inszenierung „Parsifal“ von Harry Kupfer die Partie des Klingsor. Leib war immer auch ein gefragter Konzertsänger; man höre nur seine Einspielungen von Schuberts Zyklen „Die schöne Müllerin“ oder „Die Winterreise“. Mann kann kaum noch ermessen, was es damals bedeutet haben muss gegen Fischer-Dieskaus Deutungsintensität oder die immer noch nachwirkende Emotionsromantik eines Peter Anders plötzlich so etwas wie Sachlichkeit, auch Härte, einzubringen. Nicht zu vergessen: Leib war auch ein toller Mozartsänger. Sein pfiffiger Guglielmo in „Cosi fan tutte“ ist für mich in bester Erinnerung.

Aber zurück zum Ausgang, 8. Mai 1968. Wilma Lipp, aus dem Westen, wie man damals sagte, sang die Partie der Eva. Die attraktive Sängerin aus Wien hatte einen Namen, man kannte sie aus dem Westfernsehen, wer entsprechende Verbindungen hatte, besaß auch Platten mit ihr, nun sah man sie leibhaftig. Gut sah sie aus als Eva, aber gut klang das nicht, was sie da sang. Und zum Schluss entlud sich der geballte Zorn des Berliner Premierenpublikums über ihr. Ich hatte so etwas noch nie erlebt, so ein tosendes Buh-Geschrei und wusste gar nicht, was ich davon halten sollte. Ich wusste tatsächlich nicht, dass es in der Oper, im Theater, so etwas gab. Später habe ich das oft erlebt, gerade bei Wagneropern, bei Premieren insbesondere, bei Gästen mit großen Namen, die eben auf der Bühne nicht so klangen wie auf den Schallplatten. Die Erfahrung damals hat mich geprägt. Ich habe mir geschworen: das machst du nie! Und das habe ich durchgehalten, bis heute, und fragwürdige Leistungen hochgehandelter, schwergewichtiger Damen und Herren habe ich seitdem genug ertragen. Aber, ich blöke nicht, ich gehe – oder höre einfach auf zu klatschen.

Wilma Lipp hat diese Partie nur einmal in Berlin gesungen. Gleich in der zweiten Aufführung stand Ruth Keplinger auf der Bühne. Später dann, um beim „L“ zu bleiben übernahm Rosemarie Lang die Rolle der Magdalena, die von Leipzig und Berlin aus eine sagenhafte Karriere um die Welt führte, auch als Wagnersängerin, etwa als Brangäne. Ich erinnere mich gerne an diese satte Stimme in der Berliner Premiere 1988. In Dresden konnte man Rosemarie Lang natürlich in Konzerten erleben, in der Semperoper sang sie die Venus in „Tannhäuser“, als 1987 Harry Kupfers Inszenierung in der Bearbeitung von Jürgen Muck wieder aufgenommen wurde.

Wenns ums „L“ geht, kommen wir nicht vorbei an Max Lorenz, der Tenor seines Faches und seiner Zeit schlechthin, seit 1930 für 27 Jahre (!) in Bayreuth gebucht, in den 50er Jahren auch in Dresden, als Erik in „Der Fliegende Holländer“, als Siegmund in „Die Walküre“ , sogar im 'Bayreuth des Nordens', also in Dessau, als Parsifal, und dann 1957 sogar in der Premiere unter Lovro von Matacic, in Erich Wittes (selbst einst gefeierter Wagnersänger) Inszenierung „Tristan und Isolde“. Lorenz war und ist umstritten. In Deutschland und in Österreich, danach am stärksten in Italien, ist sein Ruf enorm; andere Kritiker, etwa in New York oder in London, sprechen von harter, unangenehmer Tonqualität. Noch abfälliger wird seine Stimme als hässlich bezeichnet und die Ungenauigkeiten werden aufgelistet. Für uns bleiben die Dokumente – und da bin ich wieder bei der Box mit den zehn Wagner-CDs: Max Lorenz ist vier Mal vertreten, als Tristan, 1942, mit Jaro Prohaska als Kurvenal und mit Paula Buchner als Isolde, als Stolzing 1930 und 1927. Das ist beeindruckend, und man bekommt eine Ahnung, wie umwerfend das gewesen sein mag, wenn man dabei war.

So harmonische Ausgewogenheit im hochdramatischen Fach Fach sucht man selbst bei so berühmten Nachfolgerinnen wie bei Kirsten Flagstadt, Astrid Varnay oder Birgit Nilsson vergeblich, ganz zu schweigen von den Brünnhilden der Gegenwart: Man höre sich an, wie Frieda Leider in einer Aufnahme von 1928 den Schlussgesang der „Götterdämmerung“ singen konnte! Und noch einem Sänger namens Lorenz gebühren Erinnerungen: Siegfried Lorenz, der Bariton. Ich denke gerne an seinen Beckmesser in Berlin, ganz anders als der von Günther Leib, aber nicht minder präsent im Gedächtnis. Gerne denke ich an die Berliner Premiere „Tannhäuser“ von 1977, da sang Lorenz einen wunderbar lyrischen Wolfram, Spas Wenkoff in der Titelpartie, Celestina Casapietra war die Elisabeth. Ob Siegfried Lorenz auch in Dresden in Wagnerpartien zu erleben war, weiß ich nicht. Ich habe ihn zuletzt in der Berliner „Lohengrin“ – Premiere als Heerrufer 1983 gehört und natürlich als Lied- und Konzertsänger.

Dresdner Opernfreunde werden sich an die kräftige Altistin Ruth Lange erinnern, als Freia etwa in „Das Rheingold“ oder Brangäne in „Tristan und Isolde“, die Wagnerzeit von Ruth Lange war vor meiner Zeit, aber ihr Name ist ja immer wieder präsent. Ähnlich ist es bei der Altistin Ilse Ludwig-Jahns, die Mutter von Annette Jahns. Da sind die Erinnerungen präsent. Sie war die Mary in Wolfgang Wagners „Der Fliegende Holländer“, 1988 in der Semperoper, die Grimgerde in „Die Walküre“, ab 1969 im Großen Haus, in der Inszenierung zuvor, die ich natürlich nicht mehr kenne, war sie die Fricka der Premiere am 6. September 1959.

Und zum Abschluss unter „L“ die älteste Erinnerung. Meine ersten Berührungen mit Theater und Oper hatte ich als Schüler in meiner Heimatstadt, Finow in der Mark, später Eberswalde-Finow. Einmal im Monat gastierte das Kleist-Theater aus Frankfurt an der Oder, zunächst noch im Finower Bahnhofshotel, dann nur noch in der Kreisstadt Eberswalde im Westende-Kino. Es gab einen Sänger, besonders in Operette oder heitere Opern, der brauchte nur auf die Bühne zu kommen, schon gabs Applaus. Das war der Bariton Karl-Friedrich Lübcke. Mit ihm in der Titelrolle habe ich wohl eine der ersten Wagneropern überhaupt erlebt: er war mein erster „Fliegender Holländer“. Und damit zurück zum Beginn dieser Kolumne – lang, lang ist´s her, aber vorbei ist es nie mit den persönlichen Erinnerungen…

Nächste Woche geht es weiter, mit dem „M“, Hajo Müller Kurt Moll, Martha Mödl, Ricarda Merbeth, Waltraud Meier oder Wolfgang Markgraf, die ich selbst erlebt habe, dazu Erinnerungen an historische Größen, Maria Müller, Lauritz Melchior zum Beispiel.

Herzlich, bis Montag,
Boris Gruhl