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Geschlossene Gesellschaft

Foto: Gadi Dagon

Der Israeli Ohad Naharin ist in Dresden kein Unbekannter. Das Ballett der Semperoper hat seine Arbeit „Minus 16“ seit dieser Spielzeit im Repertoire. Die ist mit „Sadeh 21“ allerdings nicht vergleichbar. Seine Batsheva Dance Company wird im Programmheft mit den Worten angekündigt, hier würden Körper die Luft zerteilen, „als seien sie Messer“. Treffender kann man es tatsächlich nicht formulieren. Die Dynamik der hier gezeigten Bewegungen ist von unfassbarer Präszision. Unfassbar im Wortsinn: schneller als das Auge. Die Company liefert eine geschlossene Ensembleleistung, die so selten wie überaus bemerkenswert ist. Aber was genau tun die Tänzer?

Man stelle sich einen Film vor, in dem die Bewohner einer Kleinstadt portraitiert werden. Diese pflegen einen regen Kontakt untereinander, man folgt eingeschworenen Ritualen. Doch je länger man dem Treiben folgt, desto merkwürdiger erscheint es. Ein bisschen wie in Lars von Triers „Dogville“. Irgendetwas nicht Greifbares verbindet diese Menschen, eine Art geteiltes Geheimnis. Der Zuschauer fühlt sich unwohl, verfolgt aber trotzdem gebannt das Geschehen.

Die achtzehn Tänzer gehen ihrem Alltag nach. Gänzlich ohne Besonderheiten. Dabei bleibt nichts verborgen. Immer wieder glaubt man zu wissen, was da vor sich geht, meint alltägliche Gesten lesen zu können. Doch das ist ein Irrglaube. In Wirklichkeit erschließt sich deren Sinn nicht. Ein Großteil des Geschehens läuft in Zeitlupe ab. Dadurch lassen sich die Gesten aber trotzdem nicht leichter lesen. Das kollektive Schweigen verstört immens. Die Tänzer formen sich selbst zu Skulpturen, deren Posen wirken, als wären sie Teil des kollektiven Gedächtnisses. Sind sie aber nicht. Sie verharren mit ihrer Lesbarkeit innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Dem Publikum drehen sie den Rücken zu.

Eine Tänzerin steht an der Rampe und nennt Zahlenreihen, die die jeweiligen Arrangements von fünf Tänzern vorgeben. Was wirkt wie eine Improvisationsprobe ist in Wirklichkeit ein Geheimcode. Immer mehr Zahlen, immer schneller. Ohne Ende. Dann ist es ein Tänzer, der mit vor Stolz geschwellter Brust und hoher Stimme etwas bekannt gibt, etwas erzählt. Er spricht in einer Fantasiesprache. Diese Sprache soll ganz klar nicht verstanden werden. Die behutsam gesetzten Bilder werden vorgestellt, aber nicht erklärt. Erzählt Nahadin hier eine Geschichte? Gibt es so etwas wie eine Handlung? Es scheint so. Aber eigentlich doch nicht. Alles entzieht sich unentwegt und bewusst dem Konkreten. Der Zuschauer ist in diesem Film ein Fremder, der ein Fremder bleiben soll. Er darf dabei sein, wird aber nicht in die Gemeinschaft eingelassen. Beobachterstatus. Zwischendurch lacht immer mal wieder jemand im Publikum. Verhalten, einzeln. Warum? Komisch ist hier nichts. Oder doch?

Am Ende lassen sich die Tänzer von einer Rampe ins Schwarze Off fallen. Erst langsam, zögernd, ein bisschen wie müde Selbstmörder. Dann springen sie ausgelassen wie Kinder in ein Schwimmbecken. Und sind verschwunden. Frenetischer Applaus. Aber diese merkwürdigen Individuen kehren nicht noch einmal zurück. Die Bühne bleibt leer. Sie wissen, warum. Wir nicht.