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Griechischer Sommer

Pastorentochter Angela gibt sich ganz biblisch: Und sie gibt uns unsere Verschuldung. Jeden Tag mehr. Ganz Goldenes Kalb, verzockt sie Milliarden in den Sümpfen Europas. Und die Griechen vergeben uns unsere Schuld. Denn was haben wir, was hat Deutschland, diesem Land angetan! Von 1941 bis 1944 litt es unter deutscher Besetzung und hatte von allen nicht-slawischen Ländern die höchsten Besatzungsverluste erlitten. Reparationszahlungen nach 1945? Beinahe Fehlanzeige, bis heute.

Von den vielen Verbrechen der deutschen Wehrmacht, die in den von ihr okkupierten Ländern verübt worden sind, blieben einige erstaunlich unbekannt. Kommeno zum Beispiel. In diesem Dorf an der westgriechischen Küste haben Angehörige der 1. Gebirgsjäger-Division am 16. August 1943 ein furchtbares Massaker angerichtet, dem 317 Menschen zum Opfer fielen. Wehrlose Menschen vom Säugling bis zum Greis. Fast einen halben Tag haben die rund 120 Soldaten und Offiziere für dieses Massenmorden gebraucht und dabei ganze Familien ausgelöscht, das Dorf Kommeno beinahe vom Erdboden getilgt. Nur wenige Mauerreste zeugen heute noch von diesem Wahnsinn. Der für diese Aktion verantwortliche Offizier setzte seinen Militärdienst bei der Bundeswehr fort und wurde 1973 „in Ehren“ entlassen.

Jedes Jahr am 16. August wird in Kommeno dieser Verbrechen gedacht, seit 2008 gibt es ein Kulturfestival, um die Zeremonie des Gedenkens wieder mit Leben zu füllen. Dazu wurde auch der Dresdner Jazzschlagzeuger Günter Baby Sommer eingeladen. Im »Musik-in-Dresden«-Interview hat er seine Irritationen von damals erklärt. Jetzt hat er das Versprechen wahrgemacht und seine „Songs for Kommeno“ dort uraufgeführt. Gemeinsam mit der Sängerin Savina Yannatou, dem Klarinettisten Floros Floridis, dem Bassisten Spilios Kastanis sowie Evgenios Voulganris am Lauteninstrument Yayli Tanbur gab er am Tag des Massakers ein mitternächtliches Konzert, das von gut eintausend Menschen auf dem Marktplatz von Kommeno verfolgt wurde. Im Mittelpunkt des sowohl von freier Improvisation als auch von thematischen Kompositionen lebenden Projektes stand ein Klagelied, das von Maria Labri als einer der letzten Überlebenden dieses Massakers vorgetragen wurde. In diesem Miroloi verschmolzen griechische Antike mit dem Grauen von 1943 und dem Gedenken von heute. Die damals Zehnjährige war an jenem Schreckenstag in einem Nachbardorf und berichtete nun in ihrer ergreifenden Klage von Kommenos Schicksal.

Das Klangprojekt von Günter Baby Sommer ist inzwischen auch auf CD erschienen. Es gibt dazu ein umfangreiches Booklet, in dem die historischen Vorfälle noch einmal gründlich dargestellt sind. Außerdem kommen einige griechische Gastarbeiter der ersten Stunde zu Wort, die gleich nach 1960 in die Bundesrepublik reisten, um deren Wirtschaftswunder voranzubringen. Dieses Büchlein in griechischer, englischer und deutscher Sprache gibt nicht minder zu denken als das musikalische Projekt der CD (Intakt Records).

Nach der andächtig bejubelten Uraufführung in Kommeno werden die „Songs for Kommeno“ nun auch bald in Deutschland, der Schweiz und Österreich zu erleben sein. Den Auftakt setzt das Jazzfest Berlin am 2. November. Spätestens im April 2013 soll das vom Jazzclub Tonne getragene Projekt, das von der Bundeskulturstiftung gefördert wurde, im Festspielhaus Hellerau aufgeführt werden.

Griechischer Sommer kann also mehr sein als Sonne und Strand. Berührender! Allein die Aufnahme der deutschen Gäste bot einen unbeschreiblichen Beweis an Herzlichkeit. Und mit dem Blick auf den August 2013, wenn sich das Wehrmachtsverbrechen in Kommeno zum siebzigsten Mal jährt, wurden viele Wiedersehen versprochen.

Ein Wiederlesen gibt es spätestens nächsten Freitag – bis dahin ganz herzlich –

Michael Ernst