Scroll Top

Musikalischer Kurort

Ein musikalischer Ort, was soll das sein? Ein Ort, wo es permanent klingt, wo jedermann singt? Muss solch ein Ort nicht ein Orchester haben, wenigstens einen Chor, auf jeden Fall eine Konzertstätte? Oder macht schon die Tatsache, dass ein berühmter Komponist an diesem Ort die Inspiration zu einem seiner persönlichsten Musikwerke fand, die Stätte zum musikalischen Ort?

Als Dmitri Schostakowitsch 1960 eingeladen war, im frisch errichteten Gästehaus des Ministerrats der DDR im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz die Filmmusik zu „Fünf Tage – Fünf Nächte“ zu komponieren, muss ihn der Anblick des kriegszerstörten Dresden an seine Heimatstadt Petersburg erinnert haben. Die wurde 1924 in Leningrad umbenannt und ist während des Zweiten Weltkriegs fast 900 Tage lang von der deutschen Wehrmacht in einer mörderischen Blockade geschunden worden, der mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen. Also kein Wunder, dass Schostakowitsch nicht propagandistische Filmmusik schuf, sondern eines seiner intimsten Kammermusikwerke, geprägt von den Ton gewordenen Initialen D-Es-C-H.

Dieses Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110 ist die einzige Komposition, die nachweislich nicht in der Sowjetunion, sondern im Ausland entstand. Dass sie zu den Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch natürlich aufgeführt werden muss, ist keine Frage. In den ersten beiden Jahren des Festivals erklang sie sowohl in ihrer Originalfassung als auch in der vom Komponisten als op. 110a autorisierten Version als Kammersinfonie für Streichorchester, die Rudolf Barschai instrumentierte. Im jüngst vorgestellten Programm des dritten Jahrgangs fehlt dieses Werk; statt dessen wird das 9. Streichquartett Es-Dur op. 117 aufgeführt, das Schostakowitsch seiner Frau Irina Antonowna gewidmet hatte. Neben dem Klaviertrio Nr. 1 c-Moll op. 8 sowie den Sieben Romanzen nach Gedichten von Alexander Blok für Sopran und Klaviertrio und dem seit der Berliner Uraufführung 1963 unter Kurt Sanderling viel zu selten gehörten Vokalzyklus „Aus jiddischer Volkspoesie“ steht nur eine weitere Komposition von Dmitri Schostakowitsch an – nämlich als deutsche Erstaufführung die Sonate für Violine und Klavier op. 134 in der Fassung für Violine und Orchester von Krzysztof Meyer.

Mit einem solchen dramaturgisch gut durchdachten Konzept ziehen es die Festivalmacher offenbar ganz bewusst vor, in Gohrisch nach und nach den Kosmos Schostakowitsch zu präsentieren und nicht ein auf der Stelle tretendes Gedenken zu zelebrieren. Von diesem Anspruch zeugt auch die Wahl der weiteren Namen, von denen Musik in Gohrisch erklingt.

Da ist vor allem Mieczyslaw Weinberg, jener beinahe vergessene Freund Schostakowitschs, der als Pianist und Komponist von sich reden machte, die ihm gebührende Aufmerksamkeit jedoch erst in jüngster Vergangenheit wieder zu finden scheint. Von diesem 1919 in Warschau geborenen und 1996 in Moskau verstorbenen Meister gibt es – ebenfalls als deutsche Erstaufführung – das 3. Streichquartett op. 14 sowie sein Streichtrio op. 48 und die Rhapsodie über Moldawische Themen op. 47/1 zu hören. Womöglich noch unbekannter dürfte einem breiten Publikum der US-amerikanische Künstler Frederic Rzewski sein, von dem der legendär schwierige Variationszyklus „The People United Will Never Be Defeated!“ aus dem Jahr 1975 aufgeführt wird. Die 36 Variationen zu einen chilenischen Revolutionssong gelten als schlechthin unspielbar, Pianist Igor Levit jedoch hat bereits den Beweis angetreten, dass er sie drauf hat – im extra für das Festival errichteten Konzertzelt will er erneut damit brillieren.

Als Kuratoriumsmitglied von „Schostakowitsch in Gohrisch“ wirkt in diesem Jahr erstmals der Geiger Gidon Kremer mit und wird unter anderem Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke erklingen lassen. Schnittke steht – neben Schostakowitsch und Weinberg – auch im Aufführungsabend der Staatskapelle auf dem Programm, der erneut von Michail Jurowski geleitet wird. Als einer der wenigen Künstler, die noch persönliche Erinnerungen an Dmitri Schostakowitsch haben („Er kannte mich, bevor ich ihn kannte,“ resümiert der 1945 geborene Maestro), ist er ein regelmäßiger Begleiter dieses Festivals und wird geradezu folgerichtig in diesem Jahr mit dem Internationalen Schostakowitsch-Preis geehrt. In den Vorjahren ging diese eigens gestiftete Ehrung an Rudolf Barschai und Kurt Sanderling.

Von Anfang an gehörten auch Führungen durch diesen authentischen Ort sowie Vorträge und Filmkunst mit dazu, diesmal soll es um die künstlerische Beziehung zwischen Schostakowitsch und Weinberg gehen. Für Cineasten gibt es Edgardo Cozarinskys Streifen „Le Violon de Rothschild“ (Rothschilds Geige) aus dem Jahr 1996 zu sehen, dessen Musik von Schostakowitsch sowie von dessen Lieblingsschüler, dem 1941 in Leningrad gefallenen Benjamin Fleischmann stammt.

Gohrisch, gar keine Frage, ist ein musikalischer Ort.
 

3. Internationale Schostakowitsch Tage Gohrisch:

28. bis 30. September 2012
Vorverkauf u.a. Schinkelwache am Theaterplatz Dresden, Musikhaus Opus 61 sowie alle CTS-Vorverkaufsstellen und www.schostakowitsch-tage.de
Zu sämtlichen Konzerten gibt es Shuttle-Busse vom Theaterplatz Dresden nach Gohrisch und wieder zurück (12 Euro)