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Neue Leiden

Von seiner "herzlichen Freundschaft" zu dem sanften, ruhigen Albert ließ Goethe den Werther in seinen ersten Briefen schreiben. Aus den schwankenden Gefühlslagen der aufkeimenden Dreiecksbeziehung zwischen Albert, Charlotte und dem melancholischen Werther zogen auch die drei Librettisten der 1892 vollendeten Opernfassung Spannung: "Ein Freund Euch will ich sein!," verspricht der gefühlige Protagonist in der deutschsprachigen Fassung dem Mann, dem Charlotte versprochen ist. Er bittet ihn, die dargereichte Bruderhand auf immer ausgestreckt zu lassen. Die Angebetete wiederum liebt ihren Albert innig, verehrt "das beste aller Herzen". Es ist also gerade die Zwiespältigkeit der Gefühle, die unsere Herzen in so sympathische Verwirrung bringt, und die Massenet musikalisch verbrämt.

Foto: M.M.

Dieser Zwiespalt blieb in der jüngsten Opernpremiere, die am Sonnabend in der Nikolaikirche Freiberg stattfand, weitgehend verborgen. Die Gelsenkirchener Regisseurin Anja Sündermann lässt den entgeisterten Albert von fern beobachten, wie Charlotte und Werther liebesberauscht durch die Nacht tingeln; damit sind die Schotten schon im Ersten Akt dicht. So anmutig und nuanciert Guido Kunze die Rolle singt – gegen Sündermann und die Ausstatterin Olga von Wahl, die ihn in einen stutzerhaften Anzug steckt, ist schwer anzukommen. Nathalie Senf und Angelo Raciti spielen ihre Beziehung auf der anderen Seite der Gefühlsmauer ins Extreme aus: Werther als leidenschaftlich überspannter, fast immer ein Quentchen zu laut singender und zu ausholend gestikulierender Revolverheld, der sein Pulver vor der Pause zu freigiebig verschießt, gegen Ende aber noch zu herrlicher sängerischer Form aufläuft. Und Charlotte, die – der verschmierte Lippenstift und das derangierte Negligé lassen keinen anderen Schluss zu – in ihrer Ehe missbraucht wird, bald selbst am Rande des Suizids balanciert und sich Werther schließlich verwirrt und wie in Trance ergibt.

Diese dramaturgischen Überladungen, in den ersten beiden Akten durch eine Anzahl Bewegungs- und Requisitenklischees angereichert, unterfordern die Vorstellungskraft des Publikums quasi von Beginn an. Ärgerlich daneben die Unstimmigkeiten bei der Personenführung: regietechnisch wirkt hier einiges doch sehr schablonenhaft konzipiert.
Erst nach der Pause, als die Mittelsächsische Philharmonie unter Jan Michael Horstmann befreiter aufspielt und den Kirchenraum schwelgerisch erobert, nimmt sich das Regieteam zurück. Dann schlägt die Stunde der Sänger: Miriam Sabba berührt als Sophie, die naiv sich sorgende Schwester; Kunze lässt den betrogenen Ehemann zwar hartherzig, aber würdevoll abtreten – und die folgende lange Vereinigungs- und Sterbeszene Charlottes und Werthers gelingt stimmlich wie schauspielerisch glänzend. Das festliche "Noel! Noel! Noel!" der jüngeren Geschwister Charlottes – am Ende geht es unter die Haut. Großer Jubel.

Eine Textfassung des Artikels ist am 11. Juni in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.

Nächste Termine: 12., 13., 15., 17., 19. Juni; Karten: Tel. 03731 358235