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Ein Gedicht und viele Gebete: Das „Requiem“ für Dresden

Wladimir Jurowski bewies allerhöchste Umsicht im Frauenkirchenklangraum (Fotos: Matthias Creutziger)

Wer am Samstag die Dresdner Frauenkirche betrat, um der Uraufführung von Lera Auerbachs Requiem „Dresden – Ode an den Frieden“ beizuwohnen, dürfte als erstes das prächtige Gegenwartsbarock angeschaut und als zweites einen Blick ins Programmheft geworfen haben. Darin verstören doppelseitige Fotos. Der von Menschenmassen gefüllte Platz vor der Semperoper am 1. Mai 1933. Eine Kundgebung der Nationalsozialisten. Dann die Ruinen der Innenstadt im Jahr 1945, vom Rathausturm aus fotografiert. Klage und Anklage. Aufgenommen von ein und demselben Fotografen. Dazwischen liegt das berühmte Dutzend der eintausend Reichsjahre. Ohne viel Worte wird klar, was das deutsche Volk in diesem Zeitraum der Welt – und letztlich sich selbst – angetan hat.

„Historische“ Gedenkkonzerte

Es folgt eine Auflistung der Gedenkkonzerte, die seit 1951 an die Bombennächte und all ihre Opfer erinnern sollen. Wieder und wieder das Requiem von Giuseppe Verdi, das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms und sowieso das Requiem von Mozart. Viermal immerhin das „War Requiem“ von Benjamin Britten, dazwischen auch Beethovens „Missa Solemnis“, die „Große Totenmesse“ von Hector Berlioz, Mahlers „Auferstehungs-Sinfonie“ sowie Requiems von Dvorák, Duruflé, Fauré, Heinichen und Zelenka. Nicht zu vergessen die „Musicalischen Exequien“ von Heinrich Schütz, Bachs „Kreuzstab-Kantate“ und Verdis „Quattro pezzi sacri“.

Als stünde das Elysium schon vor der Tür…

Im Jahr 1956 taucht eine Uraufführung auf, das Requiem des damaligen Kapellmeisters Kurt Striegler. Jetzt, 56 Jahre danach, stand endlich erneut ein musikalisches Novum auf dem Programm. Die derzeitige Capell-Compositrice Lera Auerbach hatte dazu einen gemeinsamen Auftrag von Staatskapelle und der Stiftung Frauenkirche bekommen. Sie lieferte – kein halbes Jahr nach ihrer in Salzburg uraufgeführten Oper „Gogol“ – die Partitur für ein abendfüllendes Werk. Es basiert auf dem liturgischen Text, variiert das darin enthaltene „Kyrie“ zu einem Ruf nach Erbarmen in mehr als drei Dutzend Sprachen, fokussiert auf die am meisten verbreiteten Weltreligionen und trägt deren Gebete vor. Als zeitgenössischen Brückenschlag in die Gegenwart werden zudem das Gebet eines New Yorker Feuerwehrmanns, der als erstes Opfer des 11. September 2001 protokolliert wurde, sowie das Gedicht eines in Dresden geborenen Pfarrers vertont. Dessen Zeilen sind in eine der Frauenkirch-Glocken eingraviert worden.

Musikalische Bezüge zu Dresden

Lera Auerbach hat nach solchen Bezügen zum Ort und zur Geschichte gesucht. Dazu hat sie ein sakral anmutendes, von formalen Zitaten lebendes und sehr deutlich Adaptionen nutzendes Klangmaterial geschaffen. Mal verstört es, wirkt eher spröde denn wirklich versöhnlich, mal ist es lautstarke Anklage, schrill aus dem Entsetzen heraus, und mal setzt es schroffe Kontraste. Mit vergleichsweise schmalem Orchesterapparat, dem immer wieder Kammerspiel und scharfe Soli eingeschrieben sind, hat die Komponistin die Gegebenheiten des Klangraums bedient. Manch langer Nachhall, der in die Kuppel abdriftet, ist geradezu bezwingend geraten.

Auch die vielen Chorpassagen – neben Herren des Staatsopernchores wurden zwei Knabenchöre aus London und New York nach Dresden verpflichtet – füllten den Tempel (wenn auch nicht immer in engelsklarer Reinheit) mit einer Art absichtsvollen Weihe. Herausragend vor allem Richard Pittsinger, einer der beiden Knabensoprane, der sich mit unglaublicher Strahlkraft und enormem Durchhaltevermögen in die Herzen sang. Der niederländische Countertenor Maarten Engeltjes hob in kristallklare Höhen und der britische Bariton Mark Stone setzte eindringliche Kontraste dazu.

Wie Vladimir Jurowski mit allerhöchster Umsicht durch das in 18 Teilen angelegte Requiem steuerte, dabei Chor- und Orchesterparts abwog, miteinander verband und sie letztlich mal brachial mit all der Inbrunst dieser glaubensvollen Musik und mal geradezu schwebend wie Tüll in den Raum strömen ließ, das verdient größten Respekt. Der Dirigent hat zwar wiederholt und erfolgreich mit der Kapelle gearbeitet, auch schon in dieser Kirche, doch bei aller Kennerschaft Jurowskis gerade in Sachen Neuer Musik – hier dürfte er ein Terrain betreten haben, das selbst ihm ungewohnt war. Denn Auerbachs Musik wirkt homogen insbesondere dadurch, dass sie – im Fall dieses Requiems – eben nicht homogen ist. Neben fast sinfonischer Machtfülle von keinen Widerspruch zulassenden Gebetsmühlen entfalteten sich Abschnitte voller Sanftmut – das wieder und wieder ertönende „Amen“ etwa mochte den Glauben an den Sandmann wiedererwecken –, als stünde tatsächlich das Elysium schon vor der Tür.

Eine unbedingte Ergriffenheit war beim Publikum denn auch angesichts des Wiedererkennungswertes beim „Dresdner Amen“ auszumachen, das die Kapell-Kompositeurin quasi in der Nachfolge von Wagner, Mendelssohn, Mahler und Bruckner erneut aufgriff und mit aller Beseeltheit in ihrer „Ode an den Frieden“ verwob.

Das Requiem „Dresden – Ode an den Frieden“ erklingt am 13. und 14. Februar im 6. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle jeweils um 20 Uhr in der Semperoper. MDR Figaro sendet das Konzert am 14. Februar in einer Live-Übertragung.