Scroll Top

Zurück auf Los

Die Frauenkirche war im Advent mehrfach Austragungsort des Weihnachtsoratoriums; Matthias Grünert, Christian Thielemann und Ludwig Güttler boten ganz unterschiedliche Lesarten an (Fotos: M. Morgenstern)

Die "Uraufführung" seines Weihnachtsoratoriums verteilte Johann Sebastian Bach bekanntlich auf die Gottesdienste zwischen erstem Weihnachtsfeiertag und Dreikönigstag. Als Zyklus gedacht, fungierten sechs Abschnitte als Erzählfaden durch die Gottesdienste, bis die letzte Kantate, "Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben", die Aufführungen schließlich zum Epiphaniasfest feierlich rundete. Das Oratorium endet mit der Melodie des ersten Chorals der ersten Kantate, "Wie soll ich dich empfangen", von hohen Trompeten festlich schmetternd umspielt.

Heute wird das gesamte Werk nurmehr zweigeteilt, und es ist üblich, beide Konzerte in die Adventszeit zu legen. Die Bereitschaft, das Ohr in den ersten Januartagen noch einmal mit weihnachtlich-besinnlichen Klängen zu erfreuen, schwindet. Schön, dass der Kreuzchor trotzdem an seiner Tradition festhält, die Kantaten IV-VI um Epiphanias herum aufzuführen; auch wenn drei ausverkauften Konzerten mit den ersten drei Kantaten nun meist ein einzelner Abend gegenübersteht, an dem die Kreuzkirche nicht einmal ausverkauft ist. Um so besinnlicher gelang die Aufführung am Sonnabend; und berührend auch die stille Minute der Einkehr, nachdem der letzte Ton verhallt war. Nach den mit Musik krachend vollgestopften Tagen vor Weihnachten und dem übermotivierten Publikum, das vor einem Monat bereits nach dem Eingangschor der ersten Kantate begeistert losgeklatscht hatte, war das ein Segen. Zumal sich dem allbekannten, runden Klang von Philharmonie und Kreuzchor vier stilistisch gut harmonierende Solisten beigesellten. Beide Männerstimmen wurden von ehemaligen Kruzianern gesungen: Andreas Scheibner verlässlich als Bass und Tobias Hunger als Evangelist und Tenorsolist. Hunger, bis 1999 Chormitglied, studierte nach einem kurzen Ausflug in Geschichte und Musikwissenschaften dann Gesang in Leipzig. An knapp dreißig (!) Konzerten hat er in dieser Weihnachtssaison mitgewirkt. An wenigen Stellen meinte man, seiner Stimme diese Anstrengung anzuhören. Insgesamt jedoch gehörte seine berührende Interpretation zu den innigsten der zurückliegenden Adventssaison.

Natürlich laden die ganz verschiedenen Lesarten der letzten Wochen unweigerlich zum Vergleich ein. Schon einige Jahre, bevor der sicherlich streitbarste Interpret – Christian Thielemann – sein musikalisches Credo am Elbufer vertäute, sorgte Matthias Grünert mit seinem tänzerischen, manchmal vielleicht zu leichtfüßigen Durchmarsch für Aufregung und missbilligendes Kopfschütteln derjenigen Dresdner, die das beschauliche Tempo der legendären Kreuzchor-Interpretation unter Martin Flämig noch im Ohr oder auf Platte haben. Die Solisten tauschen Kreuz- und Frauenkirchenkantor übrigens fleißig hin und her: der Tenor Markus Brutscher – jüngst durch Manieriertheit aufgefallen – sang schon hier wie da, wie auch Britta Schwarz, Gotthold Schwarz, Christina Elbe oder Ute Selbig. Kometen von außerhalb sorgten daneben immer wieder für Aha-Erlebnisse im Dresdner Bach-Kosmos – etwa Angelika Kirchschlager und auch Thomas Quasthoff (2007, Frauenkirche).

Christian Thielemanns Interpretation fand in der Dresdner Presse unterschiedliches Echo. Die Meinungen über seine sehr individuelle Lesart gingen auseinander.

Wie kommt es nun, dass man lange zurückgehen muss, um wirklich denkwürdige Gesamt-Interpretationen zu finden? Vielleicht werden Tenöre in Dresden besonders streng bewertet, da doch Peter Schreier die Rolle des Evangelisten einst so unnachahmlich durchlebte, sie jahrelang immer weiter verfeinerte und perfektionieren konnte. Daniel Behle sang sie wunderschön; Andreas Weller dagegen konnte in den ersten drei Kantaten der Kreuzchor-Interpretation nicht punkten; zu eng klang er in der Höhe, zu nervös war sein Vortrag. Kreuzchor und Philharmonie sind überhaupt seit Jahren in einer Interpretationsblase gefangen, die immer weicher und voluminöser wird – und hoffentlich irgendwann einmal platzt, um musikantische und musikpraktische Einflüsse von außen wieder zuzulassen. Und von Thielemann wünsche ich mir, dass er sich einmal die weltlichen Vorlagen des Oratoriums vornehmen möge. "Blühet, ihr Linden, in Sachsen" heißt nämlich eigentlich der anfangs erwähnte Chor, und wurde zum Geburtstag der Königin gespielt. "Auf denn! Wir stimmen mit euch ein / uns kann es so wie euch erfreun."

Zwei Teilfassungen des Artikels sind in den letzten Tagen bei der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, sie hier erneut abdrucken zu dürfen.