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Klassik, Pop, verwechselbar

Es ist ein sonniges Wochenende im März. Fast zwanzigtausend Musikfans aus dem ganzen Land, aber auch aus Malaysia, aus Japan haben sich für das Wochenende nach Peking aufgemacht. Die Sächsische Staatskapelle spielt dort zum zweiten Mal in dem großen Titan-Ei unweit des Platzes des Himmlischen Friedens, Max Bruch und Peter Tschaikowski stehen auf dem Programm. Aber das ist nicht der Grund. Die Fans wollen ins Basketballstadion, das seit Januar Mastercard Arena heißt. Dort wird Rain auftreten.

Rain? Wer? Auf der TIME 100, der Liste der einflussreichsten 100 Menschen dieses Planeten, ist er dieses Jahr auf Platz 55: noch vor Barack Obama, Sting und Lionel Messi. Doch in Europa ist der junge Südkoreaner völlig unbekannt. Als er etwa zur Berlinale kommt, weil hier der Film "I’m A Cyborg, but That’s OK" läuft, in dem er einen verrückten Kleptomanen spielt, ist er nur einer unter zahlreichen asiatischen Gästen. Auf seiner Homepage hat Rain Fotos aus diesen Tagen veröffentlicht: "In Belrin" sitzt er da grinsend im Sony Center. Niemand interessiert das, niemand kennt ihn.

Foto: Musikfestspiele

In Asien ist Jung Ji-hoon, der sich seit acht Jahren Rain nennt, ein Superstar, d e r Superstar. Er spielte in populären Soap Operas und übernahm letztes Jahr die Hauptrolle in einem amerikanischen Kinofilm. Er kreierte eine Modelinie, ach ja, und auf der Liste der "Most Beautiful People in the World" stand er auch. Und nicht zu vergessen: die Musik. 2002 debütierte er mit dem Album »Bad Guy«. Drei Jahre später füllte seine Tournee Säle in acht Städten Koreas, Chinas und Japans. Allein in Tokio war das Konzert in 30 Sekunden ausverkauft. Kreischende südkoreanische Teenie-Mädchen sorgen in seinen Videos für die passende Atmosphäre, während ein Rain mit Schiebermütze und nacktem Oberkörper mit den Armen schlenkert, hypergelenkig in den Spagat fällt und dabei doch – zumindest für alteuropäische Ohren – recht verwechselbar nach Neunziger-Jahre-Mischmasch-Elektropop-Hop-Mix klingt. Aber während unsereins an zielgruppengerecht designte Seligkeiten a la "Schöne Neue Welt" denkt, geben Rains Jünger auf Youtube schon mal Tanzkurse für seinen populärsten Choreografien. Die Zukunft, ist sie das?

Jan Vogler hat Rain 2010 kennengelernt. Als er mit dem damaligen Bundespräsidenten Südkorea besuchte, wurde er auf ihn aufmerksam, sagt er. Letztes Jahr traf er ihn in Schanghai wieder, spielte ihm auf seinem Cello vor – und lud Rain ein, in Dresden aufzutreten, bei einem Musikfestival. Rain sagte zu – und wird am 19. Mai in der Semperoper sein Deutschland-Debüt geben.

Einer, der in Amerika als "neuer Justin Timerlake" vorgestellt und von den Dresdner Musikfestspielen als "Michael Jackson Asiens" angekündigt wird, in der Semperoper? Eigentlich ist das eine typische Jan-Vogler-Geschichte: Brücken zu schlagen zwischen Kulturen, Stilen, auch zwischen Generationen. "Das Konzert wird ein sehr schönes Abenteuer," sagt der Intendant. "Wir werden unsere beiden Musikrichtungen ganz für sich darstellen, aber auch gemeinsam auf der Bühne sein. Und im Publikum werden sich Leute begegnen, die nie zuvor gemeinsam bei einem Konzert waren."

Von Rains Konzert abgesehen, das natürlich sofort ausverkauft war, ist der Asienschwerpunkt des Musikfestspieljahrgangs 2011 programmatisch schon ein kleines Wagnis. Natürlich sind auch dieses Jahr wieder europäische Künstler von Rang und Namen zu erleben. Die Berliner Philharmoniker werden mit Mahlers "Sechster" auftreten, Christian Tetzlaff wird Bachs Sonaten und Partiten spielen und Arcadi Volodos Schubert und Liszt. Aber daneben wird Ray Chen auftreten, ein in Australien aufgewachsener taiwanesischer Geiger, der sein Programm von Johann Sebastian Bach über Giuseppe Tartini bis hin zu eigenen Kompositionen streckt. Wu Wei, der chinesische Mundorgelspieler, wird dabeisein. Die Pianisten Haochen Zhang, Ran Jia und Yu Kosuge. Der japanische Cellist Dai Miyata. Oder Ye-Eun Choi, die junge südkoreanische Geigerin. 2007 war sie schon einmal in Dresden zu Gast – wer erinnert sich an ihren Namen, kann sich noch erinnern, was sie spielte und wie?

Das Programm ist deswegen auch eine Mutprobe, für die Festspiele und ihr Publikum. Oder sagen wir, eine sanfte Herausforderung. Man muss nun nicht gleich die achtzig Millionen jungen Chinesen zitieren, die im Moment Klavierunterricht nehmen, aber klar ist: in Asien tut sich etwas in Sachen westeuropäischer Kultur. Und wir Europäer sollten da besser einen Blick darauf haben, meint Vogler. "Asiatische Künstler werden uns in der Zukunft viele Trends und Tendenzen bescheren, auch in der Klassik." Insofern sind die Musikfestspiele dieses Jahr die Plattform für historische Begegnungen: Nachwuchs trifft Altmeister. Europa trifft Asien. Und Klassik trifft Pop.

Eine Textfassung des Artikels ist am 19. Mai in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.