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„Meine Güte, ist das hart hier!“

Dieter Jaenicke, Sie haben die Intendanz des Hauses von dem Komponisten Udo Zimmermann übernommen. In den letzten zwei Jahren hat sich viel verändert auf dem "Grünen Hügel" Dresdens. Aufgefallen ist vor allem der neue Schwerpunkt Tanz…

Wenn es um Hellerau geht, muss man sich das Haus in seiner Geschichte anschauen. Das Haus ist vor hundert Jahren gebaut worden mit dem Blick auf Dalcroze, das heißt: Musik und Bewegung! Aus den Gedanken hat sich dann immer klarer eine Tanzlinie entwickelt. Dresden spielt in der Entwicklung des deutschen Ausdruckstanzes eine wesentliche Rolle. Und die ist mit diesem Haus verbunden.

Es liegt nun nahe, 100 Jahre später zu überlegen: Wie können wir mit Respekt vor der Geschichte das, wofür das Haus gebaut wurde, in zeitgemäße Form umsetzen? Der von der Stadt definierte kulturelle Auftrag ist, ein europäisches zeitgenössisches Zentrum der Künste zu schaffen. Da ist es klar, dass es um alle Künste geht. Das habe ich in den letzten zweieinhalb Jahren auch versucht umzusetzen. Dies ist ein Haus für die zeitgenössische Musik, den zeitgenössischen Tanz, für eine Theaterlinie jenseits des typischen Stadttheaters, aber auch ein Haus für die Bildende Kunst, für die neuen Medien und computergestützten Künste.

Mit der Forsythe Company war bereits ein Ensemble an das Haus gebunden, bevor Sie kamen. Und trotzdem hatte das Genre in den letzten Jahren kaum Prioritäten in der Wahrnehmung von "Hellerau".

William Forsythe hat sich vorher nicht wirklich in das Haus integriert gefühlt! Es gab keine Verbindung der Programme am Haus, weder konzeptionell noch von den spielenden Personen. Inzwischen nimmt die Forsythe Company an allen Projekten auch inhaltlich teil, fühlt sich integriert, das ist ganz wichtig.

Ein weiterer Aspekt: Es gibt nicht nur in Dresden, sondern in ganz Ostdeutschland (außer Berlin) sehr wenig an zeitgenössischem Tanzgeschehen. Klar, es gibt die Tanzfabrik in Potsdam, die euro-scene in Leipzig, aber das war’s. Wenn man sich die Dimensionen unseres Hauses ansieht, liegt es nahe, ihm eine große Tanzbühne zu geben. Diese Priorität habe ich benannt, noch bevor man sich für mich als künstlerischen Leiter entschieden hat. Am Anfang haben wir natürlich kämpfen müssen, um dafür ein Publikum in Dresden zu gewinnen. Ich habe immer gesagt: Wir brauchen zwei Jahre, und das bestätigt sich jetzt auf schöne Weise: nach dieser Entwicklung, während der wir sehr hart und unter nicht einfachen Bedingungen hier gearbeitet haben, haben wir momentan eine Auslastung von 85 Prozent erreicht. Über das gesamte letzte Jahr hatten wir 63 Prozent!

Ja, ganz schön hart hier: Dieter Jaenicke macht die Arbeit trotzdem Spaß (Foto: Steffen Füssel)

Können Sie zur Auslastung auch absolute Zahlen präsentieren? Bei den Prozenten ist das ja so eine Sache: gehen weniger Karten im Vorverkauf weg, stellt man eben nur drei oder vier Reihen Stühle auf…

Insgesamt haben wir 2010 11135 Karten verkauft von 17665 möglichen. Wir sehen aber den neuen Zuspruch eben auch an scheinbar unwichtigen Dingen: Die Parties nach den Aufführungen funktionieren! Die Leute bleiben da, und im Vertrauen, wenn man brasilianische Tänzer hat, kann da sowieso nichts schiefgehen… Aber ich muss schon sagen, am Anfang war es unglaublich schwer, die Leute in Hellerau zu halten. Es gab schon Momente, wo ich dachte: meine Güte, ist das hart hier! Das Anfangsprogramm wäre in jeder Halbmillionenstadt der Welt ausverkauft gewesen. In Dresden mussten wir dagegen erst einmal unglaublich ackern, um überhaupt in der Stadt anzukommen. Ich habe schnell realisiert, dass Hellerau im Bewusstsein der Dresdner nicht wirklich existiert. Es war Peripherie, da gab es ganz viele Ressentiments. Mittlerweile bin ich jedoch optimistisch. Ich mag es, solche Entwicklungsaufgaben in die Hand zu nehmen. Und ich weiß auch, es wird nicht auf 85 Prozent weitergehen. Das ist übrigens ein Unterschied beispielsweise zum Moritzburg-Festival: wir arbeiten fast ausschließlich mit Namen, die zwar weltweit anerkannt, aber nirgendwo einem größeren Publikum bekannt sind. In aller Welt spielen sie vor ausverkauften Häusern; aber in Dresden kennt sie keiner, und da kommt eben auch keiner. Das Konzept funktioniert nur mit dem Vertrauen, dass das Publikum in unsere Haus hat. "Normalerweise machen die keine Unsinn… das wird schon funktionieren. Gehen wir mal hin."

In der Anmoderation der letzten Premiere ließen sie auch ein kurzes Wort zur Mischfinanzierung fallen, und wie wenig die Stadt Dresden da vergleichsweise leistet. Ist das für so ein Haus ungewöhnlich?

Ja. Hier sind wir der Verwaltung nachgeordnet und keine selbstständige GmbH. Das ist eigentlich ein Unding. In Hamburg gehört es dazu, ein gewisses geplantes Defizit zu machen, um gegenüber den städtischen Finanziers auszusagen, dass das Geld nicht reicht. Hier wäre das nicht möglich! Und ich muss auch mal deutlich sagen: Ich würde mir einfach mehr inhaltliches Interesse derjenigen wünschen, die politisch über uns entscheiden. Eine Handvoll Politiker ist oft da – aber es sind doch relativ wenige.

Kommt man dieser Tage nach Hellerau, trifft man im Publikum außer den Graubärten, den Kennern und der "Handvoll" offizieller Gäste auch viel junges Publikum, und ich meine zu hören: auch immer wieder Besuch von außerhalb?

Das Wesentliche ist, dass wir mit unserem Profil in der Stadt angekommen sind. Wir haben ein ganz anderes Publikum als vor zwei Jahren. Es gibt darüber zwei unabhängige Untersuchungen, die bestätigen: Wir haben mit Abstand das jüngste Publikum Dresdens! Aber es kommen eben nicht nur junge: Es mischt sich mit vielen Leuten unterschiedlicher Altersgruppen, unterschiedlicher ökonomischer Verhältnisse.

Der Tanz spielt dabei eine wesentliche Rolle. Dabei gingen wir in mehreren Stufen vor: wir holen einerseits große, bekannte Kompanien, die man in der Tanzwelt kennt: Constanza Macras, La La La Human Steps. Dresden hat ein Recht, diese auch kennenzulernen. Viele dieser Kompanien präsentieren wir in Koproduktionen. Sicher, da kamen bisher auch viele Sachen, die es anderswo schon gab. In Zukunft wird da noch mehr neu sein.

Auch mit der lokalen Tanzszene setzen Sie sich auseinander. Vor kurzem begann das Projekt "Linie 08". Hier hat die freie Szene die Möglichkeit, ihre Projekte auf einer kleinen Bühne zu moderatem Eintrittspreis vorzustellen.

Der Startschuss war, dass ich die ganze freie Tanzszene eingeladen habe. "Lasst uns mal reden: was können wir für euch tun, was wollt ihr von Hellerau?" Daraus ergab sich die "Linie 08", die ja die Stadt mit Hellerau verbindet. Es ist ein Projekt, was der freien Szene hilft, sich selbst zu organisieren. Und dafür gab die Kulturstiftung Geld. Der städtische Kulturausschuss übrigens fand die Idee toll, gibt aber kein Geld dazu. Das muss sich ändern.

Dennoch: kommt man quasi schweißgebadet aus einer großen internationalen Produktion, haben sich gerade die Erfahrungshorizonte um Kilometer verschoben, dann wirkt die kleine Spätvorstellung der Dresdner oft wie ein Antiklimax… Ästhetisch fällt man in ein ziemliches Loch.

Na ja. Wir wollen schon ein eigenständiges Format für die "Linie 08" finden, aber nicht von den großen Kompanien separieren. Wir legen die Veranstaltungen ja ganz bewusst an Abende, wo anderer Tanz stattfindet. Die Ausgangsidee war, das Selbstorganisationsprinzip zu stützen. Die Freien finden sich ja untereinander nicht alle nur wunderbar. Es ist in Dresden bisher zu wenig für eine freie Szene getan worden – und Hellerau ist der ideale Ort dazu. Ich hoffe, dass daraus ein über längere Zeit kontinuierliches Projekt wird. Wenn wir in fünf Jahren zwei, drei Dresdner Tanzkompanien haben, die überregional wahrgenommen werden, wäre das sehr schön.

Und so die Dresdner auch wieder an die internationale Höhenluft gewöhnen?

Wir werden ein vergleichbares Projekt bald mit dem "Dienstagssalon" machen: Quer durch alle Genres können hier lokale Bands und Ensembles auftreten. Es gibt keine Riesengagen, aber es ist wichtig, auch im musikalischen Bereich Auftrittsmöglichkeiten zu schaffen und den Künstlern hier einen Rahmen zu geben. Es kann doch nicht sein, dass wir programmatisch nur international über Dresden drüberfliegen und uns nicht kümmern, was in der Stadt selbst passiert. Das war ein katastrophaler Fehler des "Tanzplans": Er hat die Stadt ausgespart. Er hat sehr viel getan für Kooperationen, aber die freie Szene hat er von einem Weg zur Professionalisierung ausgeschlossen.

Seit kurzem sind Sie auch Teil des European Dancehouse Network, mit Partnern wie Mercat de les Flors in Barcelona oder dem Centre National de la Danse Paris. Welche Möglichkeiten schafft das für Tänzer, für Kompanien?

Die Idee ist eine ähnliche wie die des Tanzplans: Wir schaffen die Möglichkeiten für junge Choreografen, Residencies zu haben, Produktionszuschüsse und Aufführungsmöglichkeiten zu bekommen. Junge Tänzer können ihre Choreografien zeigen. Es müssen immer drei Partner aus drei Ländern dabei sein. Dazu kommen dann die großen Kompanien. Auch da ist wichtig, dass wir in Koproduktionen gehen, zumindest deutsche Erstaufführungen präsentieren. Das schafft auch überregional Medienaufmerksamkeit.

Und im Bereich der Oper, gibt es da demnächst weiteres zu entdecken?

Die Opernlinie werden wir weiterverfolgen. Constanza Macras mit "Oedipus Rex" und der "Tod und Mädchen" lief hier sehr erfolgreich, und auch das MDR Sinfonieorchester oder die Dresdner Philharmonie machen hier sehr gern Projekte. Die Philharmonie wird 2013/14 eine drei- bis vierwöchige Residenz hier haben. Es ist schon etwas besonderes, wenn man ein großes Orchester im Haus hat. Auch da möchte ich Tanz und Orchester verbinden. Wir bemühen uns, einmal im Jahr eine große Musiktheaterproduktion zu machen. Das ist natürlich ein Wahnsinns-Kostenfaktor, wenn man für eine Produktion den größten Teil des gesamten künstlerischen Jahresetats ausgibt.

Wie gut fühlt sich das Publikum bei diesem neuen Mix aufgehoben?

Das Ganze scheint sehr gut zu funktionieren. Die zeitgenössische Musik ist nach wie vor hier zuhause, primär mit dem TonLagen-Festival, aber auch übers Jahr. In einem sehr gehobenen populären zeitgenössischen Musikbereich wollen wir weitere Partnerschaften suchen. Ich bin – das ist inzwischen bekannt – keiner, der auf die Hardcore-Variante zeitgenössischer Musik abonniert ist.

Was soll es in Hellerau auf der Theaterlinie geben, wie werden sich daneben die neuen Medien aufstellen?

Da sind wir noch in einem Findungsprozess, was unser Ort in Dresden sein kann. Die vorhandenen Theater mit ihren Aktivitäten – Bürgerbühne, Rimini Protokolle, Schwarzmarktafé und so weiter – decken viele Bereiche ab. Das Societätstheater hat eine eigene Linie… Ich denke, unser Ort wird tatsächlich stärker im Bereich sehr experimentellen internationalen Theaters sein, auch Residencies anbieten. Eigenwillige Köpfe will ich holen: wie den Regisseur Thorsten Lensing, der produziert mit einer Sturheit, die nicht staatstheaterkompatibel ist. Daneben wird es viel Kontinuität geben: Constanza Macras, die Dresdner Sinfoniker, das ensemble courage… Wir haben uns für dieses Jahr im Theaterbereich bisher zurückgehalten, weil wir im Oktober und November mit dem Festival "Politik im freien Theater", das wir zusammen mit dem Staatsschausspiel und der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalten, das Interessanteste zeigen, das es momentan im deutschsprachigen Bereich gibt.

Die neuen Medien sind eine Domäne, die wir der Trans-Media-Akademie überlassen. Im Bereich der Bildenden Kunst macht der Neue Sächsische Kunstverein eigene Projekte, wir selbst haben 2009 aber auch den „Art Summer“ veranstaltet, Ausstellungen von Christian Sery und Martina Jess gemacht.

Zwei Jahre sind Sie jetzt in Hellerau – eine Zwischenbilanz?

Ich kann jetzt wirklich sagen: Es ist deutlich, welches Profil wir haben. Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen, aber der Erfolg stellt sich langsam ein. Auch international werden wir mittlerweile deutlich wahrgenommen.

Wir werden im nächsten Jahr die ersten zwölf Appartements haben für Künstler-Residenzen. Und was schön und ganz anders ist als am Anfang: wenn ich jemanden durchs Haus führe, kann ich mittlerweile sagen, so, hier probt gerade jemand, und da drüben, da ist eine Installation… Das ist, was ich möchte: dass hier unterschiedliche Künstler arbeiten, sich austauschen. Ich stelle mir vor, dass das Gelände auch tagsüber lebendiger ist. Auf der einen Seite des großen Vorplatzes sind Appartements für Künstler, Probebühnen, Ateliers geplant.

Wenn diese Appartements und Probemöglichkeiten fertig sind, dann können wir in der Tat hier Einmaliges anbieten, was Villa Massimo & Co. nicht bieten können: die Künstler leben hier, arbeiten hier und zeigen hier ihre Projekte! Da würde das Haus noch einmal seiner ursprünglichen Idee sehr entgegen gehen und das auf einer zeitgemäßen Ebene umsetzen. Es geht darum, den Ursprungsgedanken von Hellerau zu verwirklichen! Daneben freue ich mich, dass wir jetzt auch eine neue Gastronomie haben. Man kann in Zukunft vor oder nach der Vorstellung fein essen – was ja eigentlich selbstverständlich zu so einem Haus gehört.

Zum Schluss: Wie sind Sie persönlich in Dresden angekommen?

Ich habe kurz bevor ich in Hellerau anfing, hier eine Wohnung genommen, ein schönes Appartement in Loschwitz, direkt in der Natur… Es gibt andere Mitarbeiter, die würden sich da vom Balkon stürzen, so einsam ist es. Ich aber habe das gern. Hinter dem Festspielhaus ist ja fast eine bäuerliche Gegend, so etwas könnte ich mir auch vorstellen. Aber die Häuser in Hellerau sind so klein. Was ich wirklich toll finde: wie einfach es ist, mit den Kollegen zusammenzukommen. Das kenne ich aus Hamburg überhaupt nicht. Oder die Selbstverständlichkeit, wie zwischen Oper und Hellerau kommuniziert wird! Ich habe das Gefühl, gut angekommen zu sein, viele Leute zu kennen, es macht mir Spaß.

Die letzten 25 Jahre habe ich in Rio, in New York, in Hamburg gelebt… mit einer kurzen Unterbrechung in Dänemark. Da ist klar: Dresden ist kleiner. Auf der anderen Seite habe ich durch meinen Beruf viele Privilegien, ich muss und kann viel reisen. Wenn ich mal ein Wochenende einfach nur hier bin, bin ich sehr froh… Oder wenn ich mal vier Wochen nicht reisen muss. Ich finde, Dresden fehlt ein bisschen die zeitgenössische urbane Aufregung. Die Stadt ist einfach zu gediegen! Aber wir bemühen uns, unseren Teil von der Peripherie aus zu leisten. Der "suburbane Rotz", der gehört doch zur Lebendigkeit dazu!