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Noch eine Chance für Mutter Erda

Nein, das ist nicht der Ring in einer Kurzfassung, auch wenn die Musik des neuen Balletts von Tomasz Kajdanski, das jetzt am Anhaltischen Theater Dessau uraufgeführt wurde, von Richard Wagner ist. Carlos Kalmar, vormaliger Generalmusikdirektor, hat Motive aus der Tetralogie und dem Vorspiel zusammengefügt. Entstanden ist ein vierteiliges Stück für großes Orchester, dessen Teile jeweils dem Charakter des zugrunde liegenden Werkes folgen.
Kajdanskis Handlung aber folgt nicht der des Wagnerschen Ringes. Im Ballett „Die Nibelungen: Siegfriedsaga“ geht er den Weg mit Siegfried von dessen Eintritt ins tragische Heldenleben bis zu seinem Tod samt tödlicher Trauer, die Rache um Rache gebiert.

Wagners Musik wird nicht „vertanzt“. Weder Rhythmen noch melodische Bögen oder Klangexplosionen wie der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ und zuvor die galoppierende Kampfmusik der Walküren werden bewegungsmäßig gedoppelt. Der Klang, mitunter auch wie ein guter Filmsound empfunden, sorgt für die emotionale und assoziative Weite der klar strukturierten Erzählung der Siegfried-Geschichte mit den Mitteln des Tanzes.

Es beginnt mit Erdas (Mélanie Legrand) Erschaffung der Welt aus dem Nichts zu den aufsteigenden Klängen des Vorspiels aus „Rheingold“. Die große Bühne des Dessauer Theaters von Dorin Gal ist schwarz und leer. Über eine steile Schräge gelangt man auf die Erde. Auch Siegfried steigt herab. Mit seinen Heldentaten wird er aufsteigen, aber heraus kommt er nicht mehr aus diesem dunklen Schlund. Man wird ihn am Ende heraus tragen, aufgebahrt, erhöht und stilisiert für Geschichtsbücher, Opern und Filme. Der junge Mann selbst stirbt gänzlich einsam.

Das Dessauer Nibelungen-Ballett vermittelt in direkter Erzählweise die Stationen des jungen Siegfried. Jung wird er bleiben. Zunächst wird die Waffe geschmiedet. Die erste Mutprobe, der Kampf mit dem Lindwurm, ist Blutbad und Feuertaufe zugleich. Allein eine Laune der Natur in Form des herabfallenden Lindenblattes verhindert die totale Unsterblichkeit. Nächstes Objekt der Eroberung ist eine Frau. Aber bald schon ist es dem Helden langweilig an Brunhildes Seite (Anna-Maria Tasarz) im kämpferischen Staat der Walküren. Nach dem Sieg über den heimtückischen Alberich (Johan Plaitano) ist der Held perfekt, vergoldet strahlt Siegfried.

Was folgt, ist das Trauerspiel am Hof der Burgunden in Worms am Rhein. Der junge Held wird vollends zum willfährigen Werkzeug im schmutzigen Ränkespiel einer kriminellen politischen Bande an deren Spitze Widerling wie Gunther und Hagen (Joe Monaghan und Juan Pablo Lastras-Sanchez) das Sagen haben. Unter der Tarnkappe, einer weißen Neutralmaske, verliert der Tänzer Gesicht und Persönlichkeit. Siegfried wird zur Kampfmaschine, die mehrfach eroberte Brunhilde mag ebenso für die Tragik ziviler Opfer stehen wie Kriemhild (Yuliya Gerbyna). Dann rollt die sagenhafte Mordmaschine, kein Einhalt für Hauen und Stechen. Am Ende ist die Bühne wieder schwarz und leer, eine verkohlte Ruine, aus deren Löchern unkenntliche Gestalten kriechen. Eine Gestalt, übergroß, in strahlendem Weiß, Madonna, Mutter, Engel schwebt wie ein Gruß aus frommen Wallfahrtsorten über dem gottlosen Unort. Erda lässt es regnen. Noch eine Chance für die Welt.

Eben weil Tomasz Kajdanski seinen jungen Siegfried mit so viel Sympathie ausstattet, weil er ihn so entsetzlich schuldlos schuldig werden lässt, wirkt diese Apotheose der Hoffnung wie ein verzweifeltes Zeichen wider besseres Wissen.

Foto: Claudia Heysel

Getanzt wird in der Dessauer Uraufführung vorzüglich. Das ist ein Abend starker, großer Bilder, so phantastisch mit schwebenden Gestalten und so erdverbunden und der Realität geschuldet durch die überzeugenden Persönlichkeiten aller Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie. Eine phänomenale Leistung bietet der junge Jonathan Augereau als Siegfried. Mit neoklassisch elegantem Anflug hat er jene unbeschwerte Lässigkeit des zunächst naiven Abenteurers. Kommen dazu Mittel der Kunst des zeitgemäßen Ausdruckstanzes fügt sich eine Charakterleistung von emotionaler Kraft. Augereau vermittelt die tragischen Facetten missbräuchlich verführbarer Einsamkeit eines jungen Mannes. Dafür wird er zurecht inmitten des Ensembles vom Publikum gefeiert.

Viel Applaus auch für das Spiel der Anhaltischen Philharmonie unter der Leitung von Daniel Carlberg. Ein weitestgehend gelungener Vorgeschmack auf die folgende Ring-Produktion ab nächster Saison. Außergewöhnlich beginnt man mit dem Finale. Zunächst mit „Die Götterdämmerung“, die Katastrophe, dann die Tragödie in der Rückschau, bis zum Beginn des reinen Anfangs im „Rheingold“. 2014 soll sich der Dessauer Ring runden.

Weitere Aufführungen: 7. 4.; 3., 18., 24. 6.