Scroll Top

Winterkorrespondenz: Die Ankunft der Engel

„Bella figura“, das ist ein Sprichwort, eine italienische Phrase, „Kopf hoch!“, „Lass dir nichts anmerken!“. Übertragen auf den Tanz, den der 63jährige Choreograf Jirí Kylián seinen fünf Tänzerinnen und vier Tänzern in dieser Kreation von 1998 schenkt, könnte es bedeuten, dass das Unmögliche möglicher ist, als man meinen mag. Die harmonisch fließenden Bewegungen zu barocker Musik, u.a. mit Passagen aus Pergolesis „Stabat mater“, werden immer wieder gebrochen und jäh gewendet. So entstehen assoziative Bilder aus Kraft und Gegenkraft. Der Bühnenraum verengt sich, bedroht die Tänzer. Schwer fällt ein schwarzer Vorhang in ihre Arme um wieder hoch zu fahren und in neuer Konstellation dem Zuschauer nur noch ein kleines Fenster zu lassen, in dem der Tanz allen Widrigkeiten zum Trotz nicht aufzuhalten ist. Manchmal verschwimmen die Figuren der Menschen in den Lichtkonturen des Raumes, dann leuchten sie in Duetten von erregender Harmonie scharf heraus oder vereinen sich alle mit freien Oberkörpern und gleichen weit gefalteten leuchtend roten, rockähnlichen langen Beinkleidern in einer Feier grenzüberschreitender Utopie. Und diese, das ist das Wunder, kann sich bewegen im Nachklang einer Musik, die längst verklungen ist. Knisternde Spannung, gebannte Konzentration im großen Haus der ausverkauften Wiener Staatsoper, wenn Kylián dem Klang der Stille Gestalt gibt.

Vladimir Shishov, Marie-Claire D’Lyse (Foto: Dimo Dimov)

Mit „Bella figura“ schließt der Abend der mit Jirí Bubeníceks „Le Souffle de l´ esprit“, dem „Atemhauch der Seele“, geschaffen 2007 für das Zürcher Ballett, beginnt. Aus Stille und Dunkel steigt zunächst Otto Bubeníceks elektronische Klangfläche „Angel´s Arrival“ auf. Jene Engel, deren Ankunft, stilles Verweilen und beinahe unmerklicher Abschied diesen so wunderbaren Fluss der Bewegungen begleiten, werden in etlichen Phasen der Durchleuchtung eines Bildes von Leonardo da Vinci sichtbar. Wie fotografische Erinnerung aus schwarz-grauen Tönen des Negativs und Übergängen in Nuancen der Farben setzt sich das Bild der zwei älteren Frauen zusammen, von denen eine gütig lächelt, die andere sanft in die Höhe weist, und der zwei Kinder, die sich an sie schmiegen.

Im Tanz der zwei Solistinnen, drei Solisten und vier Paare zu Stücken von Johann Sebastian Bach, Roman Hofstetter und Johann Pachelbel, dominiert die Achtung vor der Musik. Umso erstaunlicher, wie es Bubenícek gelingt, in dieser kraftvollen Meditation über Abschied und Zuversicht, die dem Tanz eigene Höhensehnsucht und naturgegebene Erdenschwere in Beziehungen zu setzen. Im Finale zu Pachelbels „Kanon“ – auch im Dresdner Repertoire – im Trio der exzellenten Tänzer, atmet diese Arbeit genau jenen Geist der Freiheit, für dessen zeitgemäße Wirkung die Beherrschung neoklassischer Tugenden alles andere als hinderlich ist.

Ketevan Papava, Masayu Kimoto (Foto: Dimo Dimov)

Auf die Spitze getrieben, in die Höhe gedreht, perlend in irrwitzigem Tempo, dabei in leuchtendes Rot gekleidet, lässt der finnische Choreograf Jorma Elo in „Glow – Stop“ sechs Paare wie züngelnde Flammen über die Bühne gleiten, springen oder wirbeln. Dabei wechseln in rasanten Schnitten das Erhabene und das Clowneske einander ab, dem wilden Erglühen folgt elegisches Verlöschen. Zunächst treibt der vierte Satz aus Mozarts C-Dur Sinfonie, KV 200, die Tänzer in den Rausch ungezügelter Freude, dann der zweite Satz aus dem „Tirol Concerto for Piano und Orchestra“ von Philip Glass in melancholische Abschiedsmomente. Der Humor wird nicht entlassen. Die Schlusspinte, wenn mit dem Ender der Musik und des Tanzes einen einsamen Tänzer Entzugserscheinungen befallen dass die Finger zittern, ist erschreckend genial.

Atemberaubend, aber auch den Atem verschlagend das in den Jubel des Publikums mündende Pausenfinale von Paul Lightfoot und Sol Leon. „Skew – Whiff“, eine so wilde, irrsinnige wie hintersinnige Mischung der Tanzstile, zu Rossinis Ouvertüre „La gazza ladra“, in der ja schon das Delirium der Musik den Rausch der Geschwindigkeit feiert. Drei Tänzer und eine Tänzerin lässt das britisch-spanische Duo, seit 2002 Hauschoreografen des Nederlands Dans Theater, wie in einem skurrilen Schöpfungsakt als dreifacher Adam im Wechsel mit einer Eva sanft und wenn es sein muss auch sehr unsanft in die Höhe und zu Boden gehen. Der Fantasie an Möglichkeiten Fortbewegungen auszuprobieren, aus unsanften Fällen erhebend komische Situationen zu machen, scheinen keine Grenzen gesetzt. Der Spaß an dieser wilden Abfolge windschiefer Geschichten endet im Theater mit der Musik Rossinis. Durch die Erinnerung purzelt er noch lange.

Manuel Legris, seit 1986 Étoile der Pariser Oper und weltweit gefeierter Star, konnten wir in Dresden 1995 und 1999 bei Gastspielen bewundern. Jetzt ist der 46jährige Direktor des Wiener Staatsballetts und steht vor der Aufgabe, die Größe und Weite der Tanzwelt wieder nach Wien zu bringen, was seinem Vorgänger Gyula Harangozó nicht gelang. Dieser Abend markiert die Halbzeit seiner ersten Saison. „Schritte und Spuren“ heißt das programmatische, vor allem aber dramaturgisch überzeugende Programm, das zeigen will, „welche Wege, von Kylián ausgehend, neue Choreografengenerationen einschlagen.“ Das ist gelungen.

 

Eine Textfassung des Artikels ist in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.