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Flitzstöckelndes Fast Forward – Édouard Locks »New Work«

Der Filmtrailer täuscht: In dem am Freitagabend deutschlandweit erstaufgeführten "New Work" des Choreographen Édouard Lock kommen nur wenige Bewegungen vor, die mit den Augen vollständig nachvollziehbar sind. Wer also morgen, zur letzten Hellerauer Aufführung, auf den Hügel fährt, dem passiert vermutlich folgendes: Betreten des Hauses (Drängeln, ausverkauft). Sitzplatzkämpfe. Eine – naja, mittelmäßig einfallsreich arrangierte Ouvertüre (Musik: Gavon Bryars, auf der Basis der Opern "Dido and Aeneas" von Henry Purcell und "Orpheus und Euridike" von Christoph Willibald Gluck, vermixt mit minimalistischen Repetitiönchen) erklingt. Dann Einatmen. Fast Forward. Ausatmen. Begeisterter Jubel. Verschämt Blumen reichende Hellerauer Praktikantinnen zwingen den Herzschlag wieder in die Normalzeit. Wie betäubt den Saal verlassen…

"Einatmen. Fast Forward. Ausatmen. Vorbei." (Fotos: Stephan Floß)

Was in den anderthalb Stunden dazwischen auf der düster-leeren, nur durch Lichtkegel partitionierten Bühne passiert ist, lässt sich kaum adäquat in normaler Sprechgeschwindigkeit wiedergeben – es ist ein Destillat des rasanten Lock’schen Bewegungsrepertoires aus den letzten dreißig Jahren. Wie in einigen Vorgängerproduktionen der Kompanie »La La La Human Steps« flitzstöckeln Frauen in schwarzen, hautengen Bodies auf Spitze, Männer huschen und verhalten in Business-Anzügen und Halbschuhen. Letztere sind oft aufs choreographische Stichwortgeben, aufs Heben, Warten, Starren, Liegen reduziert: sie drehen die Pirouetten ihrer Partnerinnen an, stoppen sie, geben ihnen koordinierende Schläge auf Ober- oder Unterschenkel. Auch das Anlecken der Handflächen, das in den Achtzigern vielleicht noch für ein kleines Ballett-Skandälchen gut war, findet wieder Verwendung, so dass insgesamt kaum von einem wirklich "neuen Werk" gesprochen werden kann.

Die Protagonistin des Abends ist – nein, nicht die russische Primaballerina Diana Vishneva, die vor zwei Wochen zur Premiere des Werks in Amsterdam bejubelt wurde – sondern eine sanfte Mi Deng in der Rolle des jugendlichen Königskinds. Irgendwie hat Lock auch die Rolle einer Antagonistin vorgesehen, obwohl der Orpheus-Stoff selbige nicht hergibt. Egal, den schwarzen Schwan des Abends tanzt – zum Fürchten gut! – ein androgynes Haut-und-Knochen-Wesen, eine Harpye: Talia Evtushenko, die schlangengiftige Zauberin. So wahnwitzig fließend wie sie hat allemal Zofia Tujaka ihre Bewegungen im Griff; Tujaka reichen ein Spot am Rand der Bühne und ihr verführerisches Hüftkreisen, um den Blick von der zentralen Haupt- auf die Rahmenhandlung zu ziehen.

Wahnwitzige Harpye, androgynes Haut-und-Knochen-Wesen: Talia Evtushenko

Kurze Verschnaufpausen für die Augen bieten szenentrennende, göttlich-jenseitige Videozuspiele auf rasch heruntergelassenen Leinwänden; perfekt ausgeleuchtet, blickt da eine junge Frau in ihre Zukunft, schaut ihren dort und dann vergreisten Körper an, nimmt Kontakt zu ihm auf… Was allerdings die roten Feuerkreise dort zu suchen haben, die die Seance zwei Mal sprengen, bleibt das Geheimnis des Choreografen. Nicht ganz ersichtlich ist auch, warum der Zauber späterer Zuspiele durch Tanzpassagen abgelenkt wird.

Kaum befriedigen kann an diesem Abend die Philosophie des Verschmelzens akustischer und optischer Sinneseindrücke. Der vorklassischen Nummerndramaturgie verpflichtet scheinen die streng abgeteilten Tanzstücke, auch die Opernarien werden klar gegliedert aufgereiht; nur, dass die Koordination von Auge und Ohr an den jeweiligen Schnittstellen ins Klappern gerät. Zwei Tänze bleiben tonlos – weshalb, erschließt sich nicht. Nicht ganz zu Ende gedacht erscheint da Locks Konzept, zumal man aus einem Interview erfährt, dass die Proben ohne Musik stattfanden, die Tänzer die Zuspiele teilweise erst zwei Tage vor der Premiere hören durften. Klar, die außergewöhnlichen Ausdrucksformen von La la la Human Steps erfordern spezielle Probenformen, bei denen Abläufe immer rascher und rascher eingeübt werden, bis sie vollautomatisiert abgerufen werden können. Dann wäre jedoch die Wahl eines kontinuierlicheren Klangraums die logische Konsequenz gewesen, zumal die antiken Opernstoffe vollständig von den Antagonismen Jung-Alt, Mann-Frau überlagert werden. Interessant wär’s, den Altmeister dahingehend zu befragen. Am Sonntag ist nach der Vorstellung Gelegenheit.

 

Sonntag, 23. Januar 2011
Großer Saal, Festspielhaus HELLERAU

11.00 – 13.00 Uhr: Masterclass mit dem Ballettmeister Andrew Parker
Kosten: 15 € pro Person, Anmeldung unter mehnert@hellerau.org (begrenzte Teilnehmerzahl)

19.30 Uhr: Vorstellung
im Anschluss: Publikumsgespräch mit Édouard Lock