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„Chaplin“ mit Chaplin

Kein Kino vermag, was das Theater vermag: Schlicht und einfach „Chaplin“ ist die Antrittspremiere des neuen Ballettdirektors und Chefchoreografen des Leipziger Balletts an der messestädtischen Oper benannt worden – und tatsächlich spricht dieser Abend schlicht und einfach chaplineske Gefühle an, zeugt von Perfektion und Unvollkommenheit, bekundet Leid und Unterhaltung, woraus Mitleid und Amüsement erwachsen. Mario Schröder, einst Palucca-Schüler und von 1983 bis 1999 Erster Solist am Leipziger Opernballett, er ist mit Beginn dieser Spielzeit – nach Stationen als Ballettdirektor und Chefchoreograf in Würzburg und Kiel – in gleicher Funktion an seine einstige Wirkungsstätte zurückgekehrt. Die Leipziger bereiteten ihm einen würdigen Empfang an der früheren Bühne einer Emmy Köhler-Richter, eines Enno Markwart, Dietmar Seyffert und Uwe Scholz. Letzterer war zur „Chaplin“-Premiere durch seine Mutter vertreten, viele andere Koryphäen des Ballettfachs waren persönlich zugegen.

 

Fotos: Andreas Birkigt

Ihnen wurde geboten, was zu einer gelungenen Amtseinführung dazugehört. Das Gewandhausorchester musizierte perfekt bis brillant (bei Ballettaufführungen leider nicht selbstverständlich) und bewegte sich unter William Laceys kundiger Leitung stilsicher durch einen Kompositionskosmos von Charlie Chaplin bis Richard Wagner. Die Vielfalt dessen, was zu hören war (Musiken von John Adams, Samuel Barber, Charles Ives, Alfred Schnittke, Peteris Vasks et cetera) bot quasi den Rahmen für ausgewählte Stationen des schillernden Leben Chaplins. Der war ja nie nur Schauspieler und Filmmensch, sondern immer auch Privatperson und fiktive Figur. Annähernd deckungsgleich mögen sich der Künstler und sein tragikomischer Tramp aber höchstens in früher Kindheit gewesen sein. So war es nur schlüssig, Chaplin auch auf der Bühne gedoppelt darzustellen, angefangen mit seiner wenig versprechenden Herkunft in Armut und den Demütigungen beim ersten Auftritt in sehr jungen Jahren – als seiner Mutter die Stimme versagte, musste er spontan einspringen und wurde überraschend gefeiert – über persönliche Schicksalsschläge, erste Hollywood- und baldige Ideologie-Erfahrungen – auch Charlie Chaplin ist mit McCarthys Hass-Politik und dessen „Hexenjagd“ auf Intellektuelle konfrontiert worden – bis hin zu filmischen Sentenzen, bei denen das Publikum sowieso nach Wiedererkennen giert. Wie aber umgehen mit den auswendig angeschauten Leinwanderfolgen der Stummfilmzeit?

Mario Schröder ist mit seinem Team auch da klug vorgegangen und hat nicht aufs Nacherzählen gesetzt, sondern Neudeutungen gewagt. Um an „Modern Times“ zu erinnern, genügt ein projiziertes Räderwerk, dessen Mechanismen alsbald von den Tänzerinnen und Tänzern aufgegriffen und fortgeführt werden. Und „Der große Diktator“, jener wahnwitzige Geniestreich von 1939/40, wird mit einem gewaltigen Ballon eingerollt, dem der wahnsinnige Namensgeber entsteigt, während dem Erdball die Luft ausgeht … Mehr Andeutung braucht es nicht, sie wäre fatal; das Publikum delektiert sich an Nuancen, die deutlich genug sind.

Für diese nicht nur dramaturgisch, sondern auch technisch anspruchsvolle Arbeit – sie versetzt mal ins Studio, mal in den Film und bleibt immer ein Stück Charlies Leben – hat der neue Ballettchef die Company zu seinem Amtsantritt drastisch verändert. Im Resultat überzeugt eine ausnahmslos bestens geschulte Truppe, die ebenso motiviert wie konditioniert zu sein scheint und klassisches Ballett so selbstverständlich wie modernes Tanztheater beherrscht. Im typischen Outfit als Tramp besticht Amelia Waller mit wahrlich hundserbärmlichen Blicken und Gesten, ihr alter ego ist Tomás Ottych, der zwar mehr auf Furore setzen darf, nichtsdestotrotz aber sensibel genug agiert, um auch die zerbrechliche Seite Chaplins zu zeigen. Ob Solisten, ob Ensemble, ob Bühnentechnik oder Beleuchtung – hier ist ein Gesamtereignis gelungen, dessen sich der kleine Mann mit Hut gewiss herzlich erfreut hätte. Und irgendwo schien das Ganze auch eine Art Hommage an Uwe Scholz zu sein, der sich und sein kurzes Leben ja auch für die Kunst, für den Tanz verbrannt hat. Nicht nur seine Mutter, auch zahlreiche Fans mögen dankbar konstatiert haben, dass Scholz‘ Erbe bei Schröder in gute Hände gelegt worden ist.

Eigens zur Premiere von „Charlie“ war Charlies Tochter Geraldine Chaplin von Dreharbeiten aus New Mexico angereist. Sie, die einst in London als Balletttänzerin ausgebildet worden ist und in Richard Attenborroughs Filmbiografie „Chaplin“ ihre eigene Großmutter gespielt hatte, sie zeigte sich begeistert von Mario Schröders tanztheatralischer Annäherung an den berühmten Vater. Während das Publikum enthusiastisch applaudierte, hielt der Choreograf die zarte Dame hoch in der Luft. So viel Rührung ist selten. Mehrere Lebenskreise gleichzeitig haben sich damit geschlossen, denn ohne den tatsächlichen Charlie Chaplin und einem entsprechenden Tipp seiner Mutter hätte Mario Schröder womöglich nicht die notwendigen Schritte vom Fußball zum Ballett gefunden.

Termine: 5., 14., 17.11., 1., 18., 22., 30.12.2010
www.oper-leipzig.de