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„Wer Erfolg als Kriterium ausschließt, kann keinen Misserfolg haben.“ Dieter Jaenicke über die Arroganz der zeitgenössischen Musik

Herr Jaenicke, wie sehen die Zahlen dieses Jahr aus?

Unser Budget lag mehr oder weniger unverändert bei etwa 600.000 EUR. Knapp 200.000 davon bekamen wir erneut von der Bundeskulturstiftung. Auf diesen Betrag müssen wir nächstes Jahr leider verzichten, da eine erneute Unterstützung dann den Rahmen einer Projektförderung verlassen würde. Da müssen wir uns also etwas anderes einfallen lassen.

Sind Sie mit der Auslastung der TonLagen 2010 zufrieden?

Mit ein paar kleinen Abstrichen, ja. Das Publikum kommt mittlerweile unabhängig vom Wochentag zuverlässig nach Hellerau. Bei allen Veranstaltungen hat sich das Publikumslevel stabilisiert. Wir hatten im Gegensatz zu einigen wirklichen Ausfällen letztes Jahr diese Mal eine gute, manchmal sehr gute Auslastung. Schade, dass "Ascolta goes popular", der aus meiner Sicht interessanteste Abend, unerklärlicherweise relativ wenig Zuschauer hatte. Man steckt nicht drin. Die gesamte Struktur war übrigens dieses Jahr ganz anders: im letzten Jahr war das Festival um drei Höhepunkte herum gebaut. In diesem Jahr haben wir auf die breite Vielfalt gesetzt.

Auf der Kreuzung von zeitgenössischer und Weltmusik: Die Dresdner Sinfoniker (Foto: Stephan Floß)

Und wie lautet die künstlerische Bilanz?

Wir haben versucht fortzusetzen, was wir im letzten Jahr begonnen haben: einen breiteren Begriff von zeitgenössischer Musik zu vermitteln. Neue Elemente waren die Verbindung von Musik und Medienkunst. Das ist ein wichtiger Ansatz, den wir sicher weiter verfolgen werden. Ulf Langheinrich ist ja allein deshalb für Dresden interessant, weil er hier Musik und Kunst studiert hat. Mittlerweile ist er ein klingender Name in der computergestützten Kunst. Einen wichtigen Schritt sind auch "O Vertigo" gegangen: die Verbindung von Tanz und zeitgenössischer Musik. Ein dritter neuer Bereich war mit zwei Projekten vertreten: der Dialog von zeitgenössischer mit Volksmusik oder World Music. Diese Verbindung ist ganz schwierig, aus meiner Sicht aber im Konzert der Dresdner Sinfoniker gelungen. Auch das ist eine Linie, die wir fortsetzen wollen.

Welches Publikum sprechen Sie mit diesen neuen Kopplungen und Dialogen an?

"Wir sprechen ganz verschiedenes Publikum an" (Foto: Warham/Phillips)

Natürlich strukturiert sich unser Publikum mit den neuen Ansätzen auch neu. Es ist möglich, dass wir Besucher der früheren "Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik" verloren haben – weil sie sich durch das Erscheinungsbild, das Gesamtkonzept nicht mehr in dem Maße angesprochen fühlen. Auf der anderen Seite gewinnen wir neues Publikum mit ganz unterschiedlichen Erfahrungshorizonten. Fast jeder Abend hatte sein ganz spezifisches Publikum! Mit anderen Motiven, anderen Herangehensweisen an Musik, das finde ich interessant. Man konnte das beispielsweise an dem Warhol-Abend sehen: die 30-50jährigen kamen wegen Warhol, die 18jährigen wegen Luna.

Anders gefragt, wie populistisch müssen Sie sein, um Erfolg zu haben? Von den typischen Udo-Zimmermann-Besuchern hört man: "TonLagen, das ist doch nur Discokram."

Ich glaube, man muss nicht populistisch sein, aber etwas um sich schauen und sehen, in welchem Kontext man sich befindet; vom Publikum und vom Marketing her. Ich glaube nicht, dass es sich jemand leisten kann, auf etwas auszuruhen, weil es fünf Jahre lang gut funktioniert hat. Gerade die zeitgenössische Musik muss sich in ihren Präsentationsformen, auch in ihrem Selbstverständnis verändern. Sie ist sehr schnell in Gefahr, ein arrogantes Verhältnis zu anderen Musikformen und übrigens auch ihrem Publikum gegenüber zu haben. Ein Beispiel: Für die bildende Kunst war es selbstverständlich, Andy Warhol zu umarmen. Die zeitgenössische Musik weiß bis heute nicht, was sie mit John Lennon anfangen soll.

Ein angehender Soziologe der TU Dresden hat die Besucher der TonLagen befragt und wird nun die Besucherstruktur des Festivals untersuchen. Welche Ergebnisse erwarten Sie?

Solche Befragungen sind für uns von größtem Interesse. Es war übrigens schon die zweite Umfrage dieses Jahr, deswegen haben wir bereits erste Erkenntnisse vorliegen: Wir haben in der Altersgruppe von 18-27 Jahren ein interessiertes Publikum, das in dieser Menge kein anderes Theater in Dresden hat! Das ist eindeutig eine neue Entwicklung. In Zukunft haben wir übrigens eine halbe Stelle für Publikumsentwicklung.

Auch in Ihrem zweiten Jahr haben Sie völlig unterschiedliche Künstler zu Wort kommen lassen. Wie schätzen Sie die künstlerische Qualität der Abende ein?

Besonders bei Koproduktionen gab es für die Kuratoren und Veranstalter viele Überraschungen. Wie wird der Gast sich präsentieren, was kommt heraus? Natürlich sehe ich selber: nicht jeder Abend hat eingelöst, was ich mir davon versprochen habe. Insgesamt bin ich aber sehr zufrieden und sehe das als eine Weiterentwicklung.

Die im Tanzbereich sehr überzeugende, in puncto Musik aber eher konventionell daherkommende Produktion "Onde de Choc" lässt mich fragen: haben die heutigen Komponisten die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt?

Ich komme ja vom Tanz. Aus dieser Richtung gesehen, ist man oft sehr verblüfft über die zeitgenössische Musik. Ein Problem der Musik ist, dass sie sich sehr auf ihren "Kerngeschäftsbereich" fokussiert und nicht wirklich um sich schaut. Das führt zu Situationen, wo man sagt: die Musik ist interessant, aber die Präsentationsform kommt aus dem vorletzten Jahrhundert. Das ist das Darmstadt-Syndrom: man ist gar nicht daran interessiert, ein großes Publikum zu haben. Oder anders gesagt: Wer den Erfolg als Kriterium ausschließt, kann auch keinen Misserfolg haben.

"Näher am Puls der Zeit" (Foto: O Vertigo)

Da ist der Tanz ganz anders unterwegs: er ist viel näher am Puls der Zeit. Der zeitgenössische Tanz setzt sich sehr viel mehr als die Musik mit den Bereichen zwischen Populärem und Avantgarde auseinander. Er fragt: was tut sich in der Musik? Was macht die neue Medienkunst? Die zeitgenössische Musik ist auf sich selbst fokussiert. Ein bisschen Input könnte ihr nicht schaden. Zu "Onde de choc" nur so viel: der Tanz war eindeutig das stärkere Element als die Musik.

Rechnet man die verkauften Eintrittskarten mit dem Gesamtbudget auf, wurde jede einzelne Karten mit zweihundert Euro subventioniert. Da müssen Sie offenbar noch prinzipielle Überzeugungsarbeit leisten, oder?

Die zeitgenössische Kunst – nicht übrigens die Bildende Kunst! – hat es sehr schwer hier, ja. Dresden ist so fokussiert in seiner Identifikation auf ein traditionsorientiertes Kulturverständnis. Wir haben es mit festen Gewohnheiten zu tun, wie Kunst rezipiert wird. Viele Konzerte, die in anderen Städten sofort ausverkauft sind, sind in Dresden vielleicht nicht einmal halb voll. Das liegt nicht daran, dass wir alles falsch machen. Wir haben hier eine Entwicklungsaufgabe übernommen!

Eine Art Bildungsauftrag für die an der "süßen Krankheit Gestern" leidenden Dresdner?

Die Stadt Dresden braucht wie jede andere Großstadt eine lebendige, flexible Form der Kunstpräsentation. Zeitgenössische Kunst ist da ein zentraler Punkt. Ich bin mir sicher, dass sich da etwas verändern wird, aber ein paar Jahre brauchen wir noch. Ich sehe das Publikum, das ich – vereinfacht gesagt – übernommen habe, und vergleiche es mit dem des aktuellen Jahrgangs. Neuerdings erreichen wir eine ganz andere Mischung. Kooperationen wie die mit den Musikfestspielen geplante haben darüber hinaus den Zweck, Hellerau in die Stadt hineinzutragen. Aus der Stadt bekommen wir immer gespiegelt: für das Zeitgenössische seid ihr zuständig; auch wenn die typische Dresdner Ansicht immer noch lautet: "Ihr seid so weit weg, da oben auf dem Hügel…"

Was sehen Sie, wenn Sie von hier oben in die Zukunft blicken?

Wir werden in Zukunft mehr in einem Bereich tun, wo sich zeitgenössische Musik und die szenische Arbeit treffen: Neues Musiktheater! Sehr oft haben zeitgenössische Musiktheaterproduktionen spannende Librettos, aber dann oft eine sehr konventionelle szenische Umsetzung. Wir sind ein Haus, wo sowohl Theater, Tanz als auch zeitgenössische Musik sehr präsent sind. Hellerau ist also prädestiniert, um da mehr in Gang zu setzen. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass unser Akademieprojekt stärker von Komponisten, von Choreografen wahrgenommen und geleitet wird, und dass die Ergebnisse direkter in das Festival integriert sind. Da haben wir eine gute Chance, uns eine spezifische Kompetenz zu erarbeiten.

Jetzt habe ich von Ihnen die ganze Zeit nicht einmal das Wort "elitär" gehört.

Tja, da sehen Sie mal.

Die TonLagen 2011 finden vom 1. bis 15. Oktober statt.