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Sachsen hat ein neues Festival

Natürlich zählen die Zahlen. Die der verkauften Karten besonders. Man hatte mit 4000 verkauften Karten für die zehn Konzerte in den Gotteshäusern des Erzgebirges zwischen Freiberg und Schwarzenberg gerechnet. Über 5.500 waren es am Ende, und am Sonntag zum Abschlusskonzert in der St. Annenkirche zu Annaberg-Bucholz konnten nicht mal mehr Stehplätze vergeben werden. Allein ein Besuch der ausgewählten Kirchen in den historischen Städten und malerischen Dörfern der anmutigen Mittelgebirgslandschaft im Spätsommer ist ja schon ein Fest.

Dass es gelungen ist, Baukunst und die vorzügliche Art des Musizierens jener bekannten und weniger bekannten Werke, die zumeist für den sakralen Raum und dessen Aura komponiert wurden, so gekonnt zu verbinden, ist ein Teil des Fundamentes, auf dem dieses Festival beruht. Zum anderen ist es gelungen, die Musikalität der Menschen einer Landschaft und die daraus erwachsene für Deutschland nahezu einmalige Kantorei- und Kurrendepraxis in die Gestaltung des hochkarätig besetzten Programms einzubinden.

Da steht das Erzgebirgische Sängerfest vom 11. September in der Lößnitzer St. Johanniskirche, mit Kantoreien, Kirchenchören, der Chemnitzer Robert-Schumann-Philharmonie, den Solisten Ute Selbig und Andreas Scheibner unter der Leitung von Simon Halsey für die Initiatoren und den Intendanten Hans-Christoph Rademann vom persönlichen Anliegen und dem gesamten Konzept her bedeutungsgleich in einer Linie mit den grandiosen Konzerten zur Eröffnung und zum Abschluss des Festivals samt reichhaltigem Rahmenprogramm, touristisch, kulturell oder kulinarisch.

Rademann und sein so unkompliziertes und entspanntes junges Team machen Alte Musik. Und alles wirkt taufrisch, angenehm selbstbewusst, dabei aber gänzlich uneitel. Sie laden dazu genau jene Gäste der internationalen und der nationalen Szene ein, die es vermögen durch künstlerische Ansprüche, individuelle Interpretationen und unverkrampfte, authentische Ausstrahlung, ein in mancherlei Hinsicht höchst gemischtes Publikum in den Bann zu ziehen. Nicht in Dresden oder Leipzig, nein in der Schwarzenberger St. Georgenkirche eröffnet mit einer Aufführung von Bachs h-Moll-Messe keine Geringerer als Philipp Herreweghe mit Collegium Vocale und Orchester aus Gent das Festival. Jeremy Joseph aus Südafrika, 32 Jahre alt und Organist an der Wiener Hofburgkapelle spielte in Freiberger Dom, in der Schneeberger St. Wolfgangskirche fand ein Konzert der Echo-Preisträger Singer Pur und dem Klarinettisten David Orlowsky satt. Die Beispiele belegen Vielfalt und Überlegungen auf unterschiedliche Weise Menschen anzusprechen oder gar an die Musik heranzuführen.

Das ist gelungen, zu 75 % kamen sie aus der Region, zu 25 % reisten sie an, nicht nur aus Dresden, Leipzig oder Chemnitz, manche kamen von weither und staunten nicht schlecht über diesen Reichtum im Osten, der einst auf Silberschätzen beruhte, aber immer auch auf Musikalität und Liebe zur Heimat, wie es der Landrat des Erzgebirgskreises Frank Vogel als Vorsitzender des Kuratoriums zusammenfasst.

Und als kämen viele dieser Komponenten zusammen, klingt das erste Musikfest Erzgebirge in der St. Annenkirche zu Annaberg-Buchholz am Abend eines sonnigen Spätsommersonntags aus. Was könnte passender sein, als die gregorianischen Antiphonen der Männerstimmen, verinnerlichte oder festliche Chöre, dazu Echowirkungen einzelner Stimmen und Instrumente von den Emporen, prachtvolle polyphone Passagen bei raumwirksam verschiedenen Aufstellungen der Chorgruppen und ein unwahrscheinlich farbreicher Instrumentalsatz jenes großen, mehrteiligen Werkes von Claudio Monteverdi, dass seinem Inhalt nach in kosmischen Dimensionen der Heiligen Jungfrau gewidmet ist.

Mit derzeitig ersten Anwälten der Barocken Kunst des Musizierens, dem RIAS-Kammerchor, der Akademie für Alte Musik Berlin und einem vorzüglichen Solistenensemble, wie Maria Cristina Kiehr, Gerlinde Sämann, James Elliott oder Harry van der Kamp, unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann wurde die 400 Jahre alte „Vespero della Beata Virgine“ – Die Marienvesper – des barocken Meisters von San Marco in Venedig in der sakralen Pracht der Spätgotik der fast 100 Jahre älteren Kirche aufgeführt. Rademann gelingt es mit sicherem Empfinden, trotz einiger akustischer Tücken der weiten Hallenkirche, jenen faszinierenden Raumklang zu erzeugen, der dem Werk mit der inhaltlichen Metaphorik vom weit ausgebreiteten Schutzmantel der Madonna in der Bildhaftigkeit des Klanges entspricht. Bei aller Sicherheit des Anspruches historischer Musizierpraktiken, bei mancher Fremdheit der Marienfrömmigkeit im protestantischen Kontext, die Aufführung besticht am Ende durch die Faszination der Aktualität, die sich dem gemeinsamen Erleben einer sowohl künstlerisch als auch spirituell beeindruckenden Wiedergabe des Werkes verdankt.

Wenn es stimmt, dass man das Verständnis des Publikums an der Länge der Zeit zwischen dem Verklingen des letzten Tones und dem Einsetzen des Applauses erkennt, dann hatte sich hier ein Publikum gefunden, wie man es kaum noch in Konzertsälen oder Opernhäusern erlebt.

Das große Kirchenschiff ist fast menschenleer. Glücklich, aber auch erschöpft sitzt Hans-Christoph Rademann in einer Bank. Ja, es ist geschafft. „Wir wollten es versuchen, internationales Format ins Erzgebirge zu bringen, das ist gelungen, die Menschen hier danken es uns, sie sind gekommen.“, so ein erstes Fazit. Jetzt mit guten, hoffnungsvollen Grundlagen an die Vorbereitungen für das zweite Musikfest Erzgebirge, im September 2012. Und wieder wird es darum gehen, „die Qualität der Konzerte in den Kontext der Traditionen einer Kulturlandschaft wie das Erzgebirge einzubinden“, so Rademann mit dem Blick nach vorn. Es bleibt dabei, ein Festival für die ganze Region mit weit mehr als nur überregionaler Ausstrahlung, ein weiteres Signal aus Sachsen in die Welt der Musik.

Eine Textfassung des Artikels ist am 14. September in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.