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Von Augenblicken und Räumen, von letzten und vorletzten Dingen – Avatara Ayusos Erkundungsreise im Festspielhaus Hellerau

Das kann nur der Tanz: „Looking backward to to-morrow“. Ist nicht die rasende, schnelle Drehung des Tänzers, der Tänzerin um die eigene Achse sinnlichstes Sinnbild jener apokalyptischen Figur mit der Unzahl von Augen, der es möglich ist gleichzeitig zu erfassen was war, was ist, was sein wird. Ist nicht der Tanz mit seinen verblüffenden Balancen, den Allianzen und Korrespondenzen der Tänzerinnen und Tänzer untereinander, in ihren Beziehungen zum Raum, der sie umgibt und dem, den sie in sich tragen oder in gebieterischer Abgrenzung um sich schaffen, die Kunst des vergänglichen Augenblicks, in dem sich trifft was vergangen ist und was kommen kann?

Verwirrung und Verzauberung, Erstaunen und immer wieder auch den Hauch von Traurigkeit und Schmerz bereitet die erste große choreografische Arbeit von Avatara Ayuso in Koproduktion mit HELLERAU-Europäisches Zentrum der Künste und Tanzplan Dresden. Die Künstlerin schöpft aus einem großen Vorrat an choreografischem Material, das sie in sicherer Handhabung auf originelle Weise zu mischen versteht, vor allem mit ihren Tänzerinnen so zu erforschen versteht, dass am Ende vor allem die Authentizität der Bewegungen und Bilder, rundum überzeugt. Unterschiedlicher könnten die Tänzerinnen nicht sein, dennoch ergibt sich gerade aus der hohen Achtung ihrer individuellen Präsenzen ein Gesamtbild völlig unverstellter Frische. Die unwahrscheinlich große Nähe zwischen Tänzerinnen und Publikum wird nie zum Problem.

So entstehen würdevolle Augenblicke aus Nähe und Distanz, vor allem immer wieder jene erfüllte Sicherheit, den Tänzerinnen folgen zu können, ihren Wegen und Geschichten zu vertrauen, eigene Räume zu verlassen, andere zu erkunden. So begeben wir uns auf diese wundersame Erkundungsreise durch ein Labyrinth von Treppenaufgängen, Galerien und Räumen, vernehmen Klänge im Gemisch aus Natur und Verfremdung. Wir kommen in einen Zauberwald mit schwebenden Stämmen, die offensichtlich verstehen, was eine Tänzerin ihnen zuflüstert. Man müsste es eigentlich selber mal probieren.

Wir kommen in einen Raum, an dessen Wänden Reste von Bemalungen zu erahnen sind, wir sehen auf zwei massige Schränke, die bei geöffneten Türen wie leere Flügelaltäre wirken, deren anbetungswürdige Geschichten und Bilder eigenen Fantasien überlassen werden. Die Kunst ist ein Schrank. Wir sehen die Tänzerinnen allein, in zarter Nähe, wie sie aufeinander achten, sich selbst und andere erkunden, sie drehen sich, sie sind am Boden, dann parallele Bewegungen, Verschiebungen, Verzögerungen, Varianten, Dialoge mit dem Schatten. Untereinander machen wir Varianten der Bestimmung aus, Fügungen, Lenken. Und immer gehen die Blicke in die Ferne, weit über unsere Köpfe. Mauern und Räume haben die Kraft ihrer Begrenzungen verloren. 

Aber kein Verweilen. Es geht weiter. Die Musik klingt nach, verfremdet oder romantisch, Klavier und Percussion, auch eine Erkundungsweise von „SWOD“, das sind Stephan Wöhrmann und Oliver Doerell. Neuer Weg und neuer Raum. Wir sehen von einer Galerie aus hinunter. Eine Grube, ein Zoo, oder gar der Brunnen der Vergangenheit? Eine Landschaft am Boden dieser weißen Tiefe aus schnell hin und her zu rollenden Podesten wie Möbelstücke. Manche leuchten. Ein Turm, den eine kleine Wüste krönt. Acht Tänzerinnen, Studentinnen der Palucca Schule leisten hier Tanzarbeit. Reminiszenzen an die Geschichte des Ortes. Rhythmik und Raumerkundung, Ordnung und Chaos. Dann kommen die fünf Tänzerinnen dazu, ihre durchsichtigen Überkleider mit dem Touch sylphidenhafter Zeitlosigkeit haben sie abgelegt, jetzt tragen sie klar die farbkräftigen kleinen Kleider, bei denen Blau und Rot und Schwarz hervorstechen, die Muster weisen in eine „triadische“ Richtung. Das sind die „Dreizehn in der Grube“. Zu immer ekstatischeren Klängen revoltiert der Tanz. Gegen die Wand. Vergeblich in die Höhe. Ist die Beschaulichkeit der 100jährigen Gartenstadt Hellerau durch die uns ein Video jagt und die Dresdner Beschwörung kaum mehr nachvollziehbarer Traditionen zur Falle, zur Grube, zum hell erleuchteten Loch der Vergangenheit geworden?

„Looking backward to to-morrow“ – na klar! Augen auf, nach hinten, nach vorn und nach oben vor allem. Von daher nämlich schwebt eine Schaukel aus Licht herab. In sanfter Versöhnung, die so eigentlich nur die Operette kennt, schwingt sich eine Tänzerin hoch und könnte in neuen Augenblicken schon wieder neue Räume erkunden. Dann tobt der Applaus und das so glückliche wie begeisterte Publikum bedankt sich bei Avatara Ayuso mit ihren Tänzerinnen Alexandra Lucrecia Bano, Teresa Forstreuter, Melanie López, Camille Reval, Miriam Ramirez, den Studentinnen der Polacca Schule für diese Verführung durch Räume und Augenblicke des Glücks. Letzte Räume, letzten Augenblicke. Mehr davon!

(Foto: PR)