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Sommerkorrespondenz 2009, Tiroler Festspiele Erl, Teil 6: „Fidelio“

Ein Podest aus Brettern. Alles grau. Das sind die Bretter die die Welt bedeuten, so wie sie Jaafar Chalabi für die Fidelio-Inszenierung der diesjährigen Festspiele auf die Bühne des Passionstheaters vor das im Hintergrund aufragende Orchester gebaut hat.
Die nackten

Betonwände des Theaters, wie sie links und rechts die Bühne begrenzen, die grauen Bretter, eine solche Welt, die dies bedeuten soll, kann gar nicht in Ordnung sein.
Schon während der Ouvertüre zu Beethovens einziger Oper nehmen fünf Menschen zu beiden Seiten Platz, kaum unterscheidbar, gänzlich von Lenka Radecky in graue Anzüge gesteckt. Ein bisschen sollte man wissen vom Gang der Handlung, dann ist klar, dass es der Darsteller des Jacquino ist, der mitten in dieser unwirtlichen Welt gänzlich unvermittelt von seinen kleinen Hoffnungen zu singen beginnt. Die Hoffnungen des Angestellten gelten seinem Schätzchen Marzelline, und in dem Moment, wo sie ihm antwortet ist es schon aus mit dem Schein der Idylle, die zudem immer wieder unterbrochen wird. Die Hoffnungen des Schätzchens hingegen richten sich auf einen anderen, auf Fidelio, auf Ruhe und Stille in braver Häuslichkeit mit ihm, dem Unbekannten. Da ist die Hoffnung des ziemlich cleveren Rocco, Marzellines Vater und Gefängnisdirektor, auch schon auf dem Plan und er beginnt sein Schachspiel mit lebenden Figuren, bei dem der arme Jaquino so etwas wie ein Bauernopfer wird. Vom üblichen Tändeln mit Hantierungen am Bügelbrett ist glücklicherweise in Gustav Kuhns bis an die Schmerzgrenze reduzierten und choreografierten Inszenierung nichts geblieben. Mutterseelennackt und einsam bewegen sich die grauen Spielfiguren da in den Bahnen einer Geschichte, die am Ende so ungeheuerlich sein wird, dass eigentlich die Worte fehlen. Die sind auch so weit als möglich gestrichen, nur noch ein paar reichen aus für Halbsätze und Andeutungen, weil ja ohnehin von all dem, was sich nicht sagen lässt gesungen werden muss. Spätestens bei den ersten Takten und Tönen des berühmten Quartetts, „Mir ist so wunderbar“, ist klar, dass noch ganz andere Hoffnungen im Spiel sind, als die auf einen bescheiden vergoldeten Ehestand, und dass die Bedrohungen, unter denen hier kleine graue Menschlein weit über sich hinaus wachsen werden, jeder Art von Versuchen, ihnen eine Form naturalistischer Darstellung zu geben, Hohn sprechen würden. Pizarro, der Schurke, auch grau mit etwas Obrigkeitsschmuck versehen, durchbricht die Strenge der Bewegungsreduktionen. Er tritt auf und präsentiert uns seinen Mordplan in einer Art ungelenkem Tanz, als müsste er sich immer wieder selbst inszenieren. Und dann, welch Gegensatz der Emotionen, die Arie der Leonore, der große Gesang von der Hoffnung, vom letzten Stern für alle Müden, vom Farbenbogen, mitten in diesem entsetzlichen Grau. Und alle hören alles, auch Pizarro hört den Gesang, keiner kann sagen, er habe nicht gewusst, was er tut, was nicht und wie es andere trifft.
Die Gefangenen stehen bei ihrem Freiheitsgesang schwarz gekleidet ganz hoch über dem Orchester, keine Sträflingskleider, keine falschen Bärte. Keine Verhöhnung der Opfer mit billigen Verkleidungsassoziationen. Wer nicht die Kraft hat, bei solchem Gesang eigenen Gedanken und eigenem Wissen zu folgen, dem ist auch mit Horrorschminke nicht zu helfen.
Es geht dann noch einmal, im zweiten Teil, weit hinunter. Wieder geschieht nur das Nötigste. Wie weit wir herunter gekommen sind in die Abgründe der Unmenschlichkeit und wie weit der Stern der Hoffnung dennoch strahlt, das hören wir in Florestans Arie. Und eigentlich ist Beethovens Oper ja auch in dem Moment schon zu Ende, wo Fidelio wieder zu Leonore wird, Pizarro nicht morden kann, und es für die beiden Geretteten einen Augenblick namenloser Freude gibt. Alles Weitere wird zum Staatsakt mit üblichen Jubelchören, Bauernopfern und einem Minister, der die Gunst der Stunde gut zu nutzen weiß. Gerard Kim gibt ihm den rechten Diplomatenton. Überhaupt, ein starkes Ensemble, wenn man bereit ist, dies nicht nach dem Maß der Luststärke zu beurteilen. Dann ist man überrascht von der stimmlichen Aufwertung des Jacquino durch Giorgio Valenta, der frischen Direktheit im Gesang der Anett Fritsch als Marzelline und dem runden, schönen Klang Carsten Wittmosers als Rocco. Eine sehr individuelle Gesangsleistung bietet Thomas Gazheli als Pizarro und Jon Villars hat neben den Krafttönen des Florestan auch die des gebrochenen Mannes. Nein, eine hochdramatische Leonore der üblichen Art bietet Bettine Kampp nicht. Auf Dramatik und Emotion muss dennoch nicht verzichtet werden, sie setzt auf die lyrischen Passagen der Partie, nimmt sich zurück bis in die Zerbrechlichkeit und gewinnt so ihr Kraft aus dem Vertrauen auf die authentische Wirkung der Individualität.
Die musikalische Qualität der von Marco Medved einstudierten Chorakademie der Tiroler Festspiele wird zu Recht bejubelt, ebenso die des Orchesters, das seine Qualitäten ohnehin, aber in spezieller Weise mit der dritten Leonoren-Ouvertüre unter Gustav Kuhns charismatischer Leitung fulminant unter Beweis stellt. „Fidelio“ in Erl, ein Klangerlebnis, optisch gestaltet aus dem Geist der Musik.

Boris Michael Gruhl