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Sommerkorrespondenz 2009, Tiroler Festspiele Erl, Teil 4: Kammermusiken in der Pfarrkirche

Montag, 13. Juli:
Das ist der Luxus eines Festivals. Nach durchsonntem Tag, am Montag dazu, zum Konzert in die barocke Pfarrkirche. Zunächst führt uns das Trio Broz, das sind die Geschwister Barbara, Violine, Giada, Violine und Viola, und Klaus Broz,

Violoncello sehr behutsam in die Stille. In einer Transkription für Streichertrio hören wir Auszüge aus Johann Sebastian Bachs Goldbergvariationen. Umschlossen von der einleitenden Aria und Aria finale mit der Aufnahme und dem Verlöschen des Themas erklingen zwölf von den 32 Veränderungen. Erhält das Werk durch die Übertragung auf den Streicherklang ohnehin einen wesentlich weicheren und geschmeidigeren Charakter als beim Klang der Tasteninstrumente möglich ist, so bevorzugen die Mitglieder des Trios zudem eine besonders zurückhaltende Wiedergabe. Die nimmt zunächst auch für sich ein, verebbt aber bald, da in Sachen Dynamik oder gar Expression möglichst große Zurückhaltung waltet. Nervositäten im Zusammenspiel sind nicht überhörbar. Als mögliche Idee, zunächst in die Stille zu führen um dann in den Veränderungen Varianten der Behutsamkeit im Umgang mit musikalischem Material und instrumentalen Möglichkeiten erklingen zu lassen bevor wir in die Stille entlassen werden, erschließt sich die Interpretation des Trios. Ein höheres Maß an Emotion und Vermittlungseros könnten aber doch nicht schaden.
Der Programmzettel bietet zwar Informationen zu den Interpreten, aber kein Wort zum Werk, die Bearbeitung und dessen Autor.
Es gereicht den Festspielen zur Ehre Uraufführungen zu vergeben, anzunehmen und zu Gehör zu bringen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum wir außer dem Namen des Komponisten nichts über ihn erfahren und es ist in diesem Falle ziemlich peinlich, dass der Titel seines Werkes auch noch in falscher und damit irreführender Schreibweise erscheint. „Joschrua“, so der Zettel, man mag an einen Schreibfehler denken und im religiösen Tirol bei Weglassung des „r“ auch gleich noch entsprechende Assoziationen haben. Stimmt aber nicht. Das Stück für Streichtrio von Christof Dienz heißt „Juschroa“ und das ist ein alter Begriff für einen Jodler, für einen Schrei oder eine Kombination aus Schreien und Jodeln. Also doch ein lokaler Bezug.
Die drei Streicher produzieren in Auf- und Abwärtsbewegungen flächige Klänge, sie steigen auf bis in sehr hohe Lagen, man meint so etwas wie ein Tirilieren zu vernehmen oder den Klang gänzlich silbern heller Glöckchen, auch Glasharfenassoziationen mögen sich einstellen. Milde und meditative Passagen wechseln mit sirenenhaften Klängen und mitunter gibt es Passagen von klassisch anmutender Satzweise. Ein jäher Schluss, eine Melodie hat sich versagt, die Wirkung nicht, der erinnernde Nachklang ist intensiv.
Beim abschließenden „Forellenquintett“ von Franz Schubert kommen Davide Cabassi am Klavier und Christoph Lindenbauer am Kontrabass dazu. Von den ersten Takten an springt der Funke über und zwischen beiden Musikern baut sich eine so spannende wie höchst musikantische und tänzerische Korrespondenz auf. Da sind die hellen Klänge des Klaviers, die flinken Läufe, die eilenden oder verweilenden Motive und dazu die weitaus mehr als grundierenden, stärker lustvollen und spielerischen des Basses. Manchmal hat es den Anschein, als sei das Trio da zwischen die ganz und gar unkriegerischen aber umso mutiger und unerschrockener musizierenden und wettstreitenden Fronten geraten. Die dunkleren Seiten, die nach dem Eröffnungsschwung des Allegro vivace im folgenden Andante anklingen sind verwoben in den Gesamtverlauf, in dem der titelgebende Satz folgt und in diesem Falle besonders raffinierte Facetten der direkten oder indirekten Veränderungen und Abwandlungen einer melodischen Eingebung entdecken lässt. Das Finale, Allegro giusto, eine Tanzszene im Überschwang, wenn der Ländler in die burlesken Anklänge einer Polka übergeht, ein Innhalten, Luftholen, Aufspielen, Aufdrehen. Noch einmal sprühen die Funken zwischen dem Pianisten und dem Bassisten, die Streicher unter solchem Lichtbogen können sich dem Austausch der Energien nicht mehr entziehen und wir haben das Glück, ein mitreißendes Finale eines Festspielabends der kleineren Form mit hohem Anspruch zu erleben.
Dienstag, 14. Juli:
Erneut vollgetankt mit Sonne, den Duft von frischem Heu in der Nase, in die abendliche Kühle der Kirche. Den zweiten von drei Klavierabenden bestreitet Davide Cabassi, kein Unbekannter in Erl. Er wird auch der Solist in Robert Schumanns Klavierkonzert in a-moll sein. Die Präsenz des von Gustav Kuhn mit entdeckten und kontinuierlich geförderten 33jährigen Mailänders, der auf internationale Erfolge verweisen kann ist rundum gerechtfertigt.
Cabassis Soloabend ist ein Erfolg. Er beginnt mit einem Stück von Johann Sebastian Bach, Capriccio in B-Dur, BWV 992, bei dessen ersten, dermaßen melodiös und versonnen anmutenden Teilen man sich angenehm verwirrt fragt, ob es so etwas geben kann wie eine „barocke Romantik“, bevor in den abschließenden Passagen des Werkes die scheinbar erkennbar typischen Techniken Bachs erklingen. Dies aber dann mit einem Höchstmaß an Virtuosität, die nie zum Selbstzweck wird, sondern werkdienlich bleibt. Gespielt wird auf einem Steinway-Flügel, fernab aller Originalklangverpflichtungen.
Dann Franz Schuberts Sonate in a-moll, Deutschverzeichnis 845, ein großes Werk von symphonischen Dimensionen, besonders in den finalen Passagen der Ecksätze. Zutiefst verinnerlicht und dennoch höchst expressiv gestaltet der Pianist das wild pochende Thema des Anfangs, überführt den drängenden Gestus der Musik in die Verwandlungen der Facetten abgrundtiefer Einsamkeit, abschließend mit in ungeheurer Steigerung sich jäh aufbäumender Akkorde.
Der ungewöhnliche Zugang des Pianisten, seine individuellen Betonungen und Einfärbungen, die gerade im liedhaft beginnenden zweiten Satz so berührender wie virtuoser Gesangskunst entsprechen, lässt eben jenes Andante wie das folgende gänzlich schubertisch scherzlose Scherzo zu einem Memento werden, dessen Ernsthaftigkeit man sich nicht entziehen kann. Und eben jene Seelenstimmung wird bei größter Emphase nicht überdeckt durch die wilde Steigerung des furiosen Finalsatzes, sie bekommt in der empfindsamen Interpretation durch Davide Cabassi noch im höchsten Ausreizen der Klangdimensionen des Instrumentes im Raum einen Hauch der Zerbrechlichkeit.
Fulminant, mitreißend, versonnen und auch humorvoll die abschließende Betrachtung der „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky. Hier kommen alle Tugenden des plastischen und farbreichen Spiels des Pianisten zur Geltung. Als gelte es die einzelnen Bilder in ihren üppigen Goldrahmen wahrzunehmen, das wiederkehrende hymnische Motiv, dem jeweils narrative Passagen folgen. Dabei bleibt Cabassis Spiel aber nicht stehen, seine Interpretation führt am Ende in die abstrakte Galerie aus Klangfarben, die sich mischen und zu Bildern werden, die uns Beglückendes und Verstörendes zugleich sehen lassen, alles aber weit hinterm Horizont des Alltäglichen.

Boris Michael Gruhl