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Sommerkorrespondenz 2009, Tiroler Festspiele Erl, Teil 2: „Die Meistersinger von Nürnberg“

Jede neue Zeit wird älter. Und immer war vor der neuen eine gute alte Zeit, in der nicht alles schlecht war und auf die man sich besinnt, wenn das Neue gar zu unbekannt ist, ängstet oder gar nicht so neu ist,

wie es scheint.
Man war gespannt auf die erste Premiere des diesjährigen Erler Festspielsommers. Nach „Ring“, „Tristan“ und „Parsifal“ jetzt „Die Meistersinger von Nürnberg“, die deutsche Festoper im Tiroler Passionstheater. Wagners heiterstes Werk, auftrumpfend und zart gewoben in kammermusikalischer Manier, gewaltige Chorszenen in jedem der drei Aufzüge, parlierender Konversationsstil, Ensemblesätze wie das Quintett im dritten Aufzug von betörender Schönheit folgen einer äußeren und einer inneren Handlung. Da ist die große Burleske mit den beiden Paaren, die auf Umwegen zueinander kommen. Da ist die Tragikomödie des Beckmesser in den Dimensionen einer Shakespeare-Komödie, der sich in Liebes- und Richtigkeitswahn verstrickt und da ist die zeitlose Rotte dumpfer Kulturrichter, die sich Meistersinger nennen. Da ist der dichtenden Schuster, dessen Weltsicht zwar nicht an Nürnbergs Toren zu Ende ist und der dennoch am Ende nach selbstinszeniertem Großmut und Verzicht der erste ist, der alle Tore schließen lässt unter dem Vorwand, es sei endlich an der Krisenzeit wieder deutsche Kunst bei deutschen Meistern zu kaufen. Ein Intellektueller im Trend, nur eloquenter und gebildeter als die dumpfen Kollegen.
Da ist Wagners Abhandlung über den Zusammenstoß von Mittelalter und Neuzeit, das Drama des Künstlers als Individuum, für den auch jede Neuzeit schnell zum Mittelalter wird und vielleicht Wagners wunderbarster Exkurs über den Selbstbetrug, dass es so etwas wie einen Liebesverzicht aus reinem Herzen geben kann.
Das alles kommt in Gustav Kuhns Erler Inszenierung ausgesprochen frisch, zügig, farbreich und vor allem äußerst unterhaltend daher. Wieder braucht es kein Nürnberger Panorama. Das Orchester auf den Podesten bildet den herrlichsten Turm als Klanggebäude aus Musik, wo stand ein Nachtwächter auf einer edleren Zinne als hier, hoch auf dem Klanggipfel.
Davor ein schräg aufsteigendes Podest mit vielen als Faltung designten Sitzhockern aus frischem hellem Holz von Jaafar Chalabi, das ist veränderbar für alle Räume und Plätze des Geschehens. Welch Wunder, das frische Holz schlägt aus, im zweiten Bild wachsen Linden und blühender Flieder daraus in der Johannisnacht.
Lenka Radecky schöpft aus dem Vollen und hat eine Unmenge so skurriler wie ansehnlicher Kostüme aus falschen Mittelalter – Fantasien entworfen, die jedermann sich wie er es gerade braucht als Schutz, Verkleidung, Versteck und Mummenschanz an- oder auszieht, wegwirft, in den Schrank oder in den Wind hängt. Die Meistersingerrotte ist eine Kreuzung aus Feuerzangenbowle-Kollegium und einem unsterblichen Zentralkomitee bornierter Kunstwächter. Kein Wunder, dass diese Welt einmal fast aus den Fugen gerät, dass sie in einen ganz und gar nicht ungefährlichen Sommernachtsalptraum gerät und nur die so sachliche wie nüchterne Mahnung des Nachtwächters, den Carsten Wittmoser auch vorzüglich singt, noch einmal Leib und Leben der Kontrahenten schützt. Aber da ist es auch schon eine Stunde vor Mitternacht in Wagners deutschem Alptraum.
Die Klangpräsenz des Orchesters unter Gustav Kuhns Leitung ist enorm bei dynamischer Steigerung bis ins tosende Finale, die Melancholie im dritten Vorspiel ist von besonderer Behutsamkeit geprägt. Etwas mehr Behutsamkeit aber sollte den Sängerinnen im großen Ensemble gelten, die mitunter von mächtigen Klangwogen überrollt werden. Ein durchweg überzeugendes Ensemble, fast ausnahmslos, bis aus Franz Hawlata als Pogner und Oskar Hillebrandt als Sachs, Debütanten in ihren Partien. Das mag mache Zurückhaltung erklären, lässt aber auch glücklicherweise keine Spur von Routine aufkommen und bringt uns alle in ihren Verstrickungen, Verklemmungen und Vergeblichkeiten sehr nahe. Die Spielweise ist vorwiegend von reduzierter Art, ein so komisches Talent wie Dirk Aleschus als Strumpfwirker Hans Schwarz verfehlt seine Wirkung nicht. Jung und spielfreudig in der Optik, mit glücklich adäquatem Gesang der immer wieder aufhorchen lässt Andreas Schagerl als David. Evas junge Amme Magdalena mit charmant gewinnendem Mezzosopran und selbstbewusst zeitgemäßem Auftreten ist Hermine Hasenböck. Und Eva, der Beckmesser nachstellt, die dem Sachs nicht die Schusterstube kehren wird, sollte dieses Nürnberg schnellstens mit ihrem unritterlichen Ritter verlassen. Martin Kronthaler wird für seine Interpretation der heiklen Partie, der er bei so intensivem Spiel wie Gesang tragikomische Züge verleiht vom Publikum gefeiert. Maria Gessler gibt der Partie den schlanken Ton ihres leuchtenden, hellen Soprans mit hoher lyrischer Qualität. Passagen im zarten piano gelingen besonders. Michael Baba ist der Walther von Stolzing in neutralem Grau, etwas aus der Zeit gefallen, deshalb wohl anziehend. Das Spiel ist zurückhaltend, die Vorsicht hat Prinzip, im Gesang führt dies zu einer konsequenten Dynamik und bedeutet für die Zuhörer das Glück, knapp vor dem Finale samt tönendem Sachs, das Preislied als Höhepunkt der Entfaltung einer klangschönen und sicher geführten Tenorstimme zu hören.
Die Damen und Herren der international zusammengesetzten Chorakademie der Tiroler Festspiele tragen maßgeblich zum Gelingen dieser Produktion bei.

Boris Michael Gruhl