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Abschied von Riga mit »La Traviata«

Ein Dresdner in Riga: Für »Musik in Dresden« berichtete Boris Michael Gruhl vom 11. Rigaer Opernfestival.

Tanz auf dem Vulkan: »La Traviata« (Foto: Andris Krievins)

Ein Opernabend opulent und rauschend, ein Fest schöner

Stimmen, ein Ball, ein Tanz auf dem Vulkan, ein Abschied. Seit April letzen Jahres steht die Inszenierung von Giuseppe Verdis »La Traviata« in Riga auf dem Spielplan. Die Inszenierung von Andrejs Zagars bleibt an originalen Orten, in Paris und Umgebung, verlegt aber die Handlung in die frühen 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Es ist die Zeit der großen Namen in der Modebranche, die sich in Paris niedergelassen haben. Durch ihre Kreationen und vor allem deren für Katalog und Kaufhaus kompatible Folgeentwicklungen lassen sie Frauen, vor Feminismus und 1968, zu Geschöpfen der Männerwelt werden. Die Welt und die Halbwelt kommen sich bis zur Verwechslung nahe. Der Schein, und hier wirklich noch der schöne, bestimmt das Sein. Wer nicht dazu gehört, kann sich einkaufen, was für Frauen bedeutet, sich zu verkaufen. Freilich mit Stil und großer Geste.

Andris Freibergs hat einen attraktiven, sehr eleganten und noblen Einheitsraum auf die Bühne des Rigaer Opernhauses gebaut, einen Festsaal in den Festsaal, den dieses Theater ohnehin abgibt. Dieser Raum gibt mit wenigen Veränderungen Einblicke in die Pracht des Salons der Violetta Veléry zu Beginn der Oper. Gibt der Horizont den Blick auf eine Landschaft frei, befinden wir uns auf ihrem Landgut, und mit Laufsteg und Filmleinwand haben wir das Ambiente für die nicht mehr ganz so stilvollen Ausschweifungen bei Violettas Kollegin Flora. Am Ende, wenn nichts geblieben ist als die nackten Wände, der Kronleuchter und alles Mobiliar verkauft, zwei Koffer und eine Kiste für die Habseligkeiten der Sterbenskranken reichen, dann ist aus den Stationen ihres glitzernden Lebens eine armselige Endstation geworden. So steil das Geschäft in die Höhe führte, so tief ist der Absturz nach so misslungenem wie chancenlosem Ausstiegsversuch.

Unterlegen im Wettlauf mit dem Tod, abgelegt von der Branche und ihren Nutzern.
Kristine Pasternaka konnte bei ihren Kostümschöpfungen aus dem Vollen schöpfen. Vorlagen und Abbildungen jener Zeit geben die Anregungen ihrer augenfreundlichen Kreationen für die Damen und Herren des Chores als Mitglieder der mehr oder weniger noblen Gesellschaft. Besonders edel ist das in Farbe und Stil hochelegante Ballkleid der Protagonistin, die diese teure Verhüllung ihrer Person auch zu tragen versteht.
Eine Inszenierung ohne Experimente. Die Geschichte wird erzählt, wenige konsequente Charakterisierungen für die Personen, Raum für die Musik, attraktive Arrangements, zu bestaunende Tableaus.

Die Zeitversetzung macht das Publikum gern mit, alles andere machen die Handlung und vor allem die Musik mit dem Publikum. Oper mit dem Hauch von Luxus und der Berührung eigentlich hartgesottener Zeitgenossen durch subtilen Voyeurismus. Aber ja doch, hier darf geschluchzt werden. Taschentücher werden zerknüllt. Der jungen Studentin neben mir, die eine Partitur dabei hat mit markierten Passagen, entfährt manches Seufzen.
Wie beliebt diese Aufführung in Riga ist, zeigt der Umstand, dass allein für die Titelpartie vier Sängerinnen des Ensembles zur Verfügung stehen: Kristine Opolais, Sonora Vaice, Natalya Kreslina und Asmik Grigorian. Jetzt ist eine fünfte hinzugekommen. Marina Rebeka, die Gewinnerin des letzten Wettbewerbs „Neue Stimmen“ in Gütersloh, an der Berliner Komischen Oper zu erleben und zudem unterwegs in Europa, gibt ihr Debüt am Opernhaus ihrer Heimatstadt mit Bravour. Großer Jubel, Blumen, Bravi, Herzlichkeit.

Zu Recht. Marina Rebeka hat die aufgesetzte Geste der Gesellschafterin des großen Stils, den sie sich angeeignet hat. Sie hat die schutzlose Gestik der Verblüffung, wenn der Schein durchbrochen wird und mitten im Geschäft das Gefühl den Höchstpreis fordert. Sie ist berührend in der moralischen Überlegenheit und der persönlichen Unterlegenheit in der Begegnung mit Giorgio Germont. Sie hat die Stimme kindlicher Unschuld zu Beginn des vierten Bildes im ruhig dahinfließenden Volkston ihres Trostes, den sie sich selbst geben muss, dieweil das Orchester schon das Requiem dazu intoniert. Zu allem die Frische ihrer jugendlichen Stimme, klar und direkt, emphatisch in den Koloraturen, einige situative Irrungen, wie etwa im ersten Finale, fallen nicht ins Gewicht, weil sie emotionaler und szenischer Unbedingtheit des Spiels geschuldet sind.

Der Bariton Samsons Izjumovs, seit Jahren eine Größe des Rigaer Ensembles, ist Giorgio Germont. Klang und Ausstrahlung sind bei sparsamer Gestik von großer Wirkung. Auch er ist ein Mann des Geschäfts, der Haltung und des Scheins, bereit, den eigenen Sohn zu opfern. Aber wir sind in der Oper, bei Verdi zumal, die Männer erfahren Versöhnung über der sterbenden Violetta, und das Opfer ist ganz genregemäß ein „Sopranopfer“. Und diese singen ebenso genregemäß am schönsten, wenn es ans Sterben geht, wenn sie bereits alle Erdenschwere hinter sich gelassen haben.

Der Tenor Pavel Cernoch ist wie bereits vor einem Jahr zum Festival wieder in der Partie des Alfredo zu erleben. Er präsentiert das unschuldige Unglück. Er ist ein Todesbote aus Versehen. Dieser hohe schlanke Mann, ein großer Junge mit korrektem Scheitel und leuchtenden Augen, gehört gar nicht in diese Gesellschaft der Violetta Valéry, und sie selbst fällt bei seinem Anblick auch augenblicklich aus ihrer Rolle. Drei Anstürme der Leidenschaft lassen Alfredo und Violetta regelrecht aufeinander prallen. Zunächst die große Überraschung aus Zuneigung, Verblüffung und absoluter Schutzlosigkeit des unberechenbaren Augenblicks zum Ende des ersten Bildes. Dann in der Tiefe des Missverständnisses, im dritten Bild, wenn Alfredo Violetta so gemein wie wirkungsvoll und eitel beleidigt, mit Worten und Gesten tödlich verletzt, um am Ende in totaler Hilflosigkeit vor der Kraft und Schönheit dieser Frau im Augenblick letzter Wahrheit kapitulieren zu müssen. Für jede dieser Situationen stehen dem Sänger die Töne und vor allem die Farben der Klangemotionen zur Verfügung. Piano, sichere Mittellage, Schattierungen in den Höhen, die leicht ansprechen.

Ein Schatten aber trübt das Opernglück dieses Abends erheblich. Gintaras Rinkevicius lässt am Pult des Orchesters der Lettischen Nationaloper mehr Härte als Gefühl walten und schlägt mitunter fast militante Töne an. Das Positive aber überwiegt wie in der gesamten Rückschau auf die erlebte Zeit eines Opernfestivals, dessen eigener Charme nicht zuletzt in der Kraft eines kontinuierlich miteinander und aneinander arbeitenden Musiktheaterensembles begründet sein mag.